Das Habsburger-Gedenkjahr 2008, in welchem vor allem im Aargau an die Ersterwähnung der Habsburg 1108 und an die Ermordung König Albrechts I. 1308 bei Windisch erinnert wurde, gab den Anstoss für eine Neubewertung der habsburgischen Herrschaft in ihren Stammlanden. Ein von Peter Niederhäuser herausgegebener Sammelband zur Geschichte der Habsburger zwischen Aare und Bodensee nimmt den Zeitraum vom 13. bis 16. Jahrhundert in den Blick. Er will Bausteine einer habsburgischen Geschichte der Schweiz bieten, ja das Bild einer «habsburgischen» Schweiz, so die Formulierung des Herausgebers, entwerfen.
Die ältere eidgenössische Forschung hatte die habsburgisch-eidgenössische Geschichte des Spätmittelalters aus Innerschweizer Perspektive gezeichnet und nationalen Deutungsmustern unterworfen. Sie sah das Spätmittelalter als abgeschlossene Formierungsphase der Eidgenossenschaft an und ging von einer Gegnerschaft aus, die als Erbfeindschaft gezeichnet wurde: Erst in Abgrenzung zu Habsburg konnte die Schweiz entstehen. Die neuere Forschung hat hingegen die Habsburger als Teil der Geschichte der heutigen Deutschschweiz etabliert, indem sie die Beziehungen und Verbindungen zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern ins Zentrum stellte und deutlich machte, dass es keine klare Frontstellung gegeben habe. Allerdings wurde das 14. und 15. Jahrhundert weiterhin als entscheidende Phase für die Ausbildung von vormoderner Staatlichkeit und eidgenössischer Identität verstanden. Dies habe sich insbesondere im 15. Jahrhundert bei der Konstruktion von Helden- und Schlachtenbildern gezeigt, die als Feindbilder eine Grundsubstanz eidgenössischer Identität gebildet hätten.
Der Sammelband repräsentiert die Ergebnisse einer neuen Generation von Forscherinnen und Forschern, die auf den Deutungen von Guy Marchal, Roger Sablonier oder Bernhard Stettler aufbaut, aber andere und neue Akzente setzt. Abgesehen von den beiden einleitenden Artikeln sind die Aufsätze in drei Themenbereiche gruppiert. Sechs Beiträge widmen sich der Herrschaftsausübung und analysieren Formen und Symbole von Herrschaft. Fünf Aufsätze beschäftigen sich unter dem Titel «Adel» mit den Fürsten und den Gefolgsleuten, drei Studien haben spätmittelalterliche Erinnerungskulturen zum Thema. Eine Sektion zu den Aussenbeziehungen der Akteure wäre noch wünschenswert gewesen. Der Sammelband ist mit zahlreichen, zum Teil farbigen Abbildungen reichhaltig ausgestattet. Insbesondere die Vielzahl an hervorragenden Karten, Stammtafeln und Schaubildern wird eine häufige und lange Benutzung des Bands zur Folge haben. Ein Register fehlt.
Der erste Themenbereich der Herrschaftsausübung wird durch zwei Beiträge kontextualisiert: Durch eine Übersichtsdarstellung zum Verhältnis von Habsburgern und Eidgenossen (Bruno Meier) und durch eine Studie zur Etablierung der habsburgischen Vorrangstellung unter König Rudolf von Habsburg im 13. Jahrhundert, was am Beispiel der erfolgreichen Verdrängung der Bischöfe von Konstanz vorgeführt wird (Harald Derschka). Vier Aufsätze diskutieren Beispiele für die Herrschaftsausübung der Habsburger und die Struktur der habsburgischen Landesherrschaft im 14. und 15. Jahrhundert, sie gelten dem Burgenbau (Werner Wild), der Münzprägung und der Münzpolitik (Benedikt Zäch), dem fürstlichen Itinerar und der Reiseherrschaft (Christian Sieber) sowie dem Archiv als Herrschaftsinstrument (Roland Gerber). Die vier Falluntersuchungen erweitern die älteren Studien Marchals zur Pfandschaftspolitik und Sabloniers Forschung zur Schriftlichkeit. Es zeigt sich, welch grosses Arsenal an unterschiedlichen Herrschaftsinstrumenten, die von den Habsburgern intensiv genutzt wurden, in dem herrschaftlich sehr disparaten Umfeld zur Verfügung stand. Neben der Vielgestaltigkeit der Herrschaftspraxis und der Flexibilität der Herrschaftspolitik wird neben ihrer grossen Aktivität auch die hohe Innovationsbereitschaft der Fürsten deutlich, die es immer wieder verstanden, ihre Methoden an unterschiedliche regionale Bedürfnisse und Interessenskonstellationen anzupassen.
In der Sektion zum Thema Adel werden zuerst aus der Perspektive der Dynastie zwei herausragende Beispiele betrachtet, wenn Rudolf IV. (Alois Niederstätter) und Kaiser Maximilian (Manfred Hollegger) und deren Verbindungen zur Schweiz beschrieben werden. Dem Verhältnis von Fürsten und Adel sind drei Studien gewidmet: Am Beginn steht eine das ganze Spätmittelalter erschliessende Übersichtsdarstellung, die insbesondere das Handeln von ostschweizerischen Adelsfamilien gegenüber der Herrschaft in den Blick nimmt (Peter Niederhäuser). Fallstudien gelten den Schenken und Truchsessen von Habsburg zwischen den Linien Habsburg und Habsburg-Laufenburg im 13. Jahrhundert (Andre Gutmann) und dem Diplomaten Hans Lanz von Liebenfels (um 1430–1501) (Nathalie Kolb Beck). Diese beziehungsgeschichtlichen Studien beleuchten das Verhalten der habsburgischen Gefolgsleute, sie arbeiten die aktive Nutzung ihrer Stellung und ihrer Handlungsspielräume heraus, die Karrieremöglichkeiten durch Dienst oder den Erwerb von Lehen und Pfandschaften besassen. Insgesamt zeigt sich eine Zunahme von Pfand- und Lehensnehmern auf immer breiterer sozialer Basis. Auffällig ist aber, dass die Familien oft nur für kurze Zeit im habsburgischen Umfeld fassbar sind und selten länger der Spitzengruppe angehörten, sondern ein stetiger Wechsel zwischen Nähe und Distanz zu beobachten ist und stets Beziehungen zu anderen Herrschaftsträgern neben den Habsburgern hergestellt wurden. Die Beiträge belegen, dass die habsburgische Gefolgschaft keine abgeschlossene und homogene Gruppe war, sondern einer grossen Dynamik unterlag.
Der Erinnerungskultur gilt der dritte Themenbereich. Die Studien fragen nach der Rolle des Klosters Königsfelden für die habsburgische Herrschaft (Claudia Moddelmog), vergleichen das Totengedenken der Habsburger und der Eidgenossen am Beispiel Sempachs (Rainer Hugener) oder umreissen die Erinnerungspraxis der Herren von Hallwyl (Martina Huggel). Die Formung und der Umgang mit Erinnerung weist ein hohes Mass an Variabilität auf, das Gedächtnis veränderte sich beständig. Ebenfalls in den Blick kommen konkurrierende und sich überschneidende Erinnerungskulturen, die zu Gegenerinnerungen führen konnten. Die vielschichtigen Memorialkonstruktionen waren oftmals mehrdeutig und erlaubten unterschiedliche Formen an Reaktionen.
Die Beiträge des Sammelbandes setzen neue Akzente durch die Analyse der Herrschaftspraxis der habsburgischen Landesherrschaft, der Rolle des Adels und der kleineren Städte sowie der Erinnerungskultur nicht nur der Eidgenossen, sondern auch der Habsburger und ihrer Anhänger. In allen Bereichen zeigt sich, dass die Dynamik sehr viel grösser war, als bislang angenommen. Diese neuen Forschungen relativieren das bisherige, viel zu statische Bild vom Verhältnis der Habsburger und der Eidgenossen. Im Gegensatz zu bisherigen Deutungen wird die Brüchigkeit von Identitäten und die Offenheit der Entwicklungen in der «habsburgischen» Schweiz des Spätmittelalters deutlich. Der Sammelband entwickelt ein neues «dynamisches» Bild von der Geschichte der Habsburger und der Eidgenossen.
Andreas Bihrer (Freiburg) in Traverse