Zürich in den langen Sechzigern
«68» steht für studentische Bewegung, Streiks und Strassenschlachten in Berlin, Paris oder Zürich, ebenso für den Protest gegen den Vietnamkrieg, für den Prager Frühling oder das Experimentieren mit neuen Lebensstilen. Doch was war vor «68»? Welche Reformströmungen entwickelten sich unabhängig und jenseits davon? Das Neujahrsblatt 2018 der Antiquarischen Gesellschaft zeigt vielfältige Aufbrüche zwischen den 1950er und den 1970er Jahren im Raum Zürich im Wechselspiel mit der Schweiz und der Welt.
Die «langen Sechziger» des 20. Jahrhunderts sahen Reformen und Initiativen, die sich in den 1950er Jahren anbahnten und im Folgejahrzehnt an Fahrt gewannen. Jazzlokale und Bildungsreformen, Verkehrsplanung und Bauboom, die Präsenz ausländischer Arbeitskräfte, die Emanzipation der Frauen oder die Frage der atomaren Bewaffnung, aber auch die Erweiterung der Psychoanalyse rückten in den Mittelpunkt der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Dieser Umbruch war beeinflusst von weltweit wirksamen Ereignissen und Veränderungen, die sich im lokalen Umfeld niederschlugen. Gelegentlich strahlten diese lokal ausgebildeten Neuerungen wiederum in die weitere Welt hinaus. Fünfzig Jahre nach 1968 stellen die dreizehn Beiträge dieses Bands Menschen und Organisationen vor, die in Stadt und Kanton Zürich in den langen Sechzigern Neues wagten und ihre Kräfte für nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen jenseits der Revolte einsetzten.
Am Berchtoldstag eines jeden Jahres stellt die Antiquarische Gesellschaft in Zürich ihr Neujahrsblatt vor. Der Band behandelt jeweils ein Thema der Zürcher oder Schweizer Geschichte. Dabei wird häufig jungen Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftlern die Möglichkeit gegeben, mit ihren Forschungsergebnissen an eine breitere Öffentlichkeit zu treten.
«Mit dem Band ‹Reformen jenseits der Revolte› nähern sich die drei Herausgeberinnen Erika Hebeisen, Gisela Hürlimann und Regula Schmid dem Phänomen ‹1968› nun dezidiert von den Rändern her an. Als Bezugsrahmen dienen ihnen die im deutschsprachigen Raum in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit diskutierten ‹langen Sechziger›. [...]
Speich Chassé führt [...] für den Sammelband [...] exemplarisch vor, wie sich die Chiffre ‹1968› auflöst, wenn man sie in einem größeren zeitlichen Rahmen situiert. Dass über diesen Zugang überraschende und erhellende neue Perspektiven auf die kulturellen und politischen Transformationsprozesse seit den 1960er-Jahren eröffnet werden können, zeigt etwa der Beitrag zu den Interventionen der italienischen Emigrationsorganisation ‹Colonie Libere Italiane› in der Schweizer Bildungspolitik. [...]
Mit ‹Reformen jenseits der Revolte› haben Hebeisen, Hürlimann und Schmid einen Band vorgelegt, der unkonventionelle Perspektiven auf die mit ‹1968› assoziierte Umbruchsphase eröffnet. Schade ist, dass die einzelnen Beiträge nicht miteinander in einen Dialog treten und auch in der sehr kurzen Einleitung kein Raum für eine Synthese ist. So präsentieren sich die versammelten Beiträge der Leserin als zum Teil sehr disparate Puzzleteile, die nur sehr locker im gemeinsamen Bezugsrahmen der ‹langen Sechziger› angeordnet sind. Mit dem luftigen Layout, den vielen großen Abbildungen und dem leicht verdaulichen Umfang der Beiträge eignet sich der Band auf alle Fälle zum Schmökern, Durchblättern und Inspirationen-Sammeln.»
Vollständige Rezension
«Herausragend im Zürcher Band ist der Beitrag von Elisabeth Joris über vier Pionierinnen vor und zeitgleich zur 68er-Bewegung. Berta Rahm führte als Architektin von 1940 bis 1966 in Zürich ein eigenes Büro und avancierte später zur Verlegerin feministischer Literatur. Auch die Juristin Gertrud Heinzelmann, die Journalistin und Schriftstellerin Laure Wyss und die Kinderärztin und Psychologin Marie Meierhofer waren in zahlreichen feministischen Zusammenhängen aktiv. In der Lesart von Joris ist der Marsch der Frauen nach Bern von 1969 eher als Zeichen der Kontinuität denn als Bruch zwischen der alten und der neuen Frauenbewegung zu deuten – obwohl nicht wenige der alten Frauenrechtlerinnen die neue Bewegung mit ihren schrilleren Ausdrucksformen ablehnten. [...] Manche Entdeckung lässt sich machen, nicht zuletzt auch auf den ansprechenden Fotografien. Man fühlt sich geradezu aufgefordert, sich erneut in die damalige Literatur einzulesen und in die Musik einzuhören.»
«Man findet etliche Trouvaillen darin, etwa über das Zürcher Psychoanalytiker-Trio Parin/Morgenthaler oder über feministische Pionierinnen. Aufschlussreich auch der Beitrag über das bewegte Studentenleben. Fazit des Autors: Je genauer man hinschaue, ‹umso banaler die vermeintliche Revolution›.
«Der Sammelband ‹Reformen jenseits der Revolte› macht aufschlussreiche Bohrungen in die Vorgeschichte von ‹1968› und gibt den damaligen Protesten eine historische Tiefenschärfe.»
«Im Sinne einer lokalhistorischen Spurensuche schildern und analysieren darin die Autorinnen und Autoren, wie Menschen, Organisationen und Institutionen in Zürich Neues wagten – oftmals angetrieben oder beschleunigt vom Kalten Krieg und dem beispiellosen wirtschaftlichen Nachkriegsboom. [...] Eine gelungene lokalhistorische Ergänzung zu anderen Publikationen zum Thema 1968.»
«Die einzelnen Beiträge stehen nebeneinander, es obliegt der Leserin und dem Leser, aus dem Konglomerat das Gesamtbild einer bewegten Zeit zu erstellen, in der in der Volksschule neu das Fach Lebenskunde eingeführt wurde, Zürich zum Zentrum der Ethnopsychoanalyse wurde, die Studenten mehr Mitsprache verlangten und Stadtplaner – und nicht nur diese – von Satellitenstädten in Adliswil und Otelfingen träumten. Und in der Stadt Zürich waren sich die Parteien von links bis rechts in der Verkehrspolitik einig - pro Auto.»
«‹Nein zur Bombe – Ja zur Demokratie.› Dass der Historiker Jakob Tanner diese Parole als Titel für seine Rückblende in die langen Sechziger Jahre wählte und in Zürich den Brennpunkt der Friedens- und Antiatombewegung ortet, rief einige Erinnerungen wach. Darüber hinaus erfuhr ich im regionalen ‹68›-Sammelband von Chronos viel Neues über das damalige Umfeld. [...] Im übrigen enthält der Sammelband der Antiquarischen viele weitere Beiträge, die nicht nur höchst interessant, sondern für andere sicher auch ähnlich erinnerungsträchtig sind.»