Werden und Wandel des Bundesstaats
Volksrechte, Verbände und Sozialstaat in der Schweiz
tmn. Kaum hatte Anfang November 1847 der Sonderbundskrieg begonnen, da wurde
in Mannheim die erste «Grussbotschaft» an die - freisinnige - Schweiz
verfasst: «An den Erfolg des unvermeidlich gewordenen Kampfes knüpfen sich
die Sympathien, die Befürchtungen und Hoffnungen der europäischen
Gesellschaft.» Ähnliche Gefühle drückten bis zur letzten, erneut aus
Mannheim stammenden «Adresse» vom Februar 1848 insgesamt 53 Botschaften mit
über 5000 Unterschriften aus, die vor allem aus dem Südwesten Deutschlands,
aber auch aus Paris und London stammten. Peter Huber und Josef Lang haben
diese Dokumente neu herausgegeben, eingeleitet und zu vielen der oft
illustren Unterzeichner von Michelet bis Marx biographische Angaben
beigefügt.
Atlantischer Kreislauf moderner Ideen
Zwar sahen die Adressenschreiber in den «tapferen eidgenössischen Männern»
die «Vorkämpfer für die grosse Sache» ganz Europas, doch nach den kurzen
Hoffnungen des «Völkerfrühlings» fand sich die Eidgenossenschaft bald als
einzige liberale Republik des Kontinents neu isoliert. Andauernde innere
Stabilität bescherte ihr allerdings die Bundesverfassung von 1848, die
Alfred Kölz in ihrer meist unterschätzten Abhängigkeit von ausländischen
konstitutionellen Debatten einordnet. Die Revolutionen in den USA und vor
allem in Frankreich waren es, die den «atlantischen Kreislauf moderner
Staatsideen» inspirierten, indem sie nach konstitutionellen Wegen suchten,
um die misstrauisch beobachtete Staatsmacht zu begrenzen. Kölz erwähnt nicht
nur die Freiheitsrechte und die Gewaltenteilung mit einem sehr starken
Parlament; auch Instrumente der direkten Demokratie dürften weniger durch
die Tradition der Landsgemeinde als durch die Französische Revolution
geprägt sein. Bereits Condorcet konzipierte im «extrem demokratischen»
Gironde-Verfassungsentwurf von 1793 Gesetzes- und Verfassungsinitiative, und
das Verfassungsreferendum wurde in Frankreich sogar Realität.
Die modernen direktdemokratischen Instrumente, 1869 erstmals in der Zürcher
Kantonalverfassung verwirklicht, haben als «errungene Volksrechte» gerade
in der EU-Debatte eine auch emotional grosse Bedeutung. Kölz untersucht als
deren Vorstufe das 1831 erstmals in St. Gallen eingeführte Veto, das auf das
Vetorecht der römischen Volkstribunen zurückgeführt wurde, möglicherweise
aber auch im jakobinischen «droit de réclamation» wurzelt. Weil die absolute
Mehrheit der Stimm berechtigten damit parlamentarische Beschlüsse in
restaurativem Sinn rückgängig machen konnte, erwies sich das Veto als
allerdings schlecht funktionierendes Instrument der Konservativen, während
die Liberalen es ablehnten. Gleichsam als Kompensation führte die radikale
Berner Verfassung von 1846 erstmals das ebenfalls auf Condorcet
zurückgehende «Abberufungsrecht» ein, das bis heute in sieben Kantonen
existiert und als «recall» auch in fünfzehn nordamerikanischen Gliedstaaten
übernommen wurde. Erfolgreich angewandt wurde es in der Schweiz allerdings
erst in einem - peinlichen - Fall: Als der liberale Aargauer Grosse Rat den
Juden 1862 das Bürgerrecht erteilte, wurde er durch eine
Unterschriftensammlung und die anschliessende Abstimmung abberufen und
durch ein konservativ beherrschtes Gremium ersetzt.
Integration durch Expertenkommissionen
Die Entwicklung des - mit Ulrich Zimmerlis Worten - «gar nicht so
demokratischen» Bundesstaats von 1848 zum heutigen, insofern dem Ancien
Régime verwandten «Korporationenstaat» (Alfred Kölz) analysieren die
Beiträge in einem von Brigitte Studer herausgegebenen Sammelband. Josef
Mooser erklärt die anfängliche politische Ausgrenzung von Frauen, Juden und
- de facto - Unterschichten mit der liberalen Überzeugung, dass der
Staatsbürger ein ortsansässiger, lokal stabiler, persönlich unabhängiger,
mit Besitz und einer gewissen Bildung ausgestatteter, in die christliche
Kultur eingebetteter Hausvater sei.
Da aber die Freiheitsrechte, anders als die bürgerlichen, kaum
eingeschränkt waren, eröffneten sie Gestaltungsräume, die langsam, aber
folgerichtig auf breitere politische Partizipation hinsteuerten. So
beschreibt zwar Albert Tanner die machterhaltenden Tricks der freisinnigen
Männer im jungen Bundesstaat; deren Vormacht wurde aber durch die politische
Integration der Katholiken (Marco Jorio), der Sozialdemokraten (Bernhard
Degen) und der Frauen (Elisabeth Joris) fortlaufend reduziert. Diese
widerwillig und erst nach langen Bemühungen gewährten «Gnadenakte» (Degen)
wurden vorbereitet durch die Vertretung der Minderheiten in
Expertenkommissionen, wo jeweils Konsens eingeübt wurde, als im Parlament
noch heftige Polemiken vorherrschten. Derartige Kompromisslösungen
begleiteten auch den schrittweisen Aufbau des Sozialstaats, der deshalb eine
den jeweiligen Konjunkturen folgende Mischform liberaler, konservativer und
sozialdemokratischer Elemente darstellt (Studer).
Professionalisierte Aussenpolitik ab 1960
Ebensowenig wie der Sozialstaat ist der wirtschaftspolitische
Interventionismus ein Reservat der Linken. Jakob Tanner zeigt, dass er ab
dem späten 19. Jahrhundert und besonders in den Kriegs- und Krisenjahren des
20. wechselseitig mit der «Kolonialisierung der Politik durch organisierte
Interessen und der Herausbildung parastaatlicher Strukturen»
zusammenspielte. Gerade im Bereich des Aussenhandels wurde das Zepter schon
ab den 1880er Jahren den interessierten Verbänden überlassen; Pilet-Golaz'
souveräne Ignoranz gegenüber wirtschaftlichen Problemen war bezeichnend für
diese Praxis, und so kam dem Vorort nicht nur im Zweiten Weltkrieg eine
zentrale Funktion in der Aussen(wirtschafts)poli- tik zu. Vor allem in
solchen Gremien wurden die Interessen der verschiedenen Branchen abgewogen
und dann in bilateralen Abmachungen eingebracht, bis ab den späten 1950er
Jahren der zunehmende Multilateralismus und zusehends komplexere, über
wirtschaftliche Fragen weit hinausreichende Verhandlungspakete dieses
Milizsystem der direkt Interessierten unzeitgemäss werden und im Politischen
Departement (dem heutigen EDA) eine moderne Ministerialverwaltung entstehen
liessen. Insofern sieht Peter Hug - wenigstens in der Aussenpolitik - den
«pluralistischen Korporatismus» als nicht mehr dominant an, was allerdings
das innenpolitische Konfliktpotential erhöhe, solange nicht
(parlamentarische) Mitsprachemöglichkeiten für neue Interessenausgleiche
sorgen können.
Peter Huber / Josef Lang (Hrsg.): Solidarität mit der schweizerischen
Revolution. Die deutsche «Adressen»-Bewegung 1847/48. Chronos-Verlag, Zürich
1998. 127 S., Fr. 28.-.
Alfred Kölz: 1789-1798-1848-1998. Der Weg der Schweiz zum modernen
Bundesstaat. Historische Abhandlungen. Verlag Rüegger, Chur/Zürich 1998.
231 S., Fr. 39.80.
Brigitte Studer (Hrsg.): Etappen des Bundesstaats. Staats- und
Nationsbildung der Schweiz, 1848-1998. Chronos-Verlag, Zürich 1998. 293 S.,
Abb., Fr. 34.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 27.04.1999 Nr. 96 57