Das dörfliche Leben der Stadt Dietikon
Reichhaltige Ortsgeschichte mit fiktiven Textteilen
vö. Wie Uster, Wetzikon oder Schlieren gehört Dietikon zu jenen typisch ländlichen Industrieorten der Schweiz, die im 20. Jahrhundert städtische Ausmasse annahmen, im Alltagsleben aber ihre dörfliche Kultur bewahrt haben. Diesen zwiespältigen Charakter haben die Autoren der kürzlich erschienenen Dietiker Ortsgeschichte als Leitmotiv gewählt und das 300 Seiten umfassende Werk mit dem Titel «Dietikon. Stadtluft und Dorfgeist» überschrieben. Die Publikation ist im Hinblick auf das 200-Jahr-Jubiläum des Beitritts von Dietikon zum Kanton Zürich verfasst worden, der 1803 erfolgte und als offizielles Gründungsdatum des modernen Dietikon gilt. Das von der Historikerin Verena Rothenbühler und dem Historiker Martin Lengwiler vom Büro Fokus in 18 Monaten umgesetzte Buchprojekt wurde von einer städtischen Kommission begleitet. Die Kosten von 400 000 Franken hat die bürgerliche Abteilung des Stadtrates übernommen.
Unkonventionelle Elemente
Das mit viel Fotomaterial bebilderte und grafisch modern gestaltete Sachbuch unterscheidet sich in zwei Punkten von anderen Ortsgeschichten. Obwohl der Einsatz fiktiver Elemente unter Fachleuten umstritten ist, wird auch quellenmässig schlecht Erschlossenes thematisiert. Dieses scheint in den vom Historiker Markus Stromer verfassten Geschichten aus fünf verschiedenen Epochen auf, deren Hauptfigur - ein kleiner Knabe - frei erfunden ist. Um den fiktionalen Charakter dieser Einschübe klar erkennbar zu machen, wurden sie mit Bildern von Karin Seiler und Sandra Niemann illustriert. Eine weitere Besonderheit der Dietiker Ortsgeschichte ist die beigelegte CD-ROM, auf der historisches Material, Interviews mit Zeitzeugen und mehrere hundert Bilder gespeichert sind.
In neun chronologisch gegliederten Hauptkapiteln wird der weite Bogen von den Zeiten der Römer bis in die Gegenwart gespannt, wobei die letzten 200 Jahre Priorität haben. Gleichzeitig markieren die Hauptkapitel inhaltliche Schwerpunkte zu Themen wie Religion, Industrialisierung oder Kultur. In den Unterkapiteln erzählen die Autoren zahlreiche konkrete Geschichten aus dem einstigen Alltag, betten sie in grössere historische Zusammenhänge ein und schlagen auch immer wieder die Brücke zur Gegenwart.
Hartes Ringen um eine Identität
«Stadtluft und Dorfgeist» ist also nicht nur eine fundierte, mit viel Detailkenntnissen angereicherte Ortsgeschichte für Nostalgiker. Sie zeigt am Beispiel Dietikon zugleich die überkommunalen wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Realitäten und Tendenzen auf. Dazu gehören etwa die Schilderung des erbitterten Kampfs der Dietiker Gemeindebehörden gegen die «fahrenden Läden» der Migros oder das Porträt der Salamifabrik Cattaneo. Exemplarisch ist auch die Entwicklung von Dietikon zum modernen Industrieort und zur anonymen Agglomerationsgemeinde. Den Abschluss der reichhaltigen Publikation bildet denn auch das nach wie vor ungelöste Problem der Orts- und Zentrumsplanung, in dem das jahrelange Ringen der Dietiker Behörden um eine städtische Identität besonders stark zum Ausdruck kommt.
Dietikon. Stadtluft und Dorfgeist. Herausgeber: Stadt Dietikon, Bürgerliche Abteilung, Kommission Ortsgeschichte. Redaktion: Fokus AG für Wissen und Organisation. Grafik: Atelier für visuelle Gestaltung, Thea Sautter, Zürich. Chronos-Verlag, Zürich 2003. 300 S., 48 Fr.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung ZÜRICH UND REGION Samstag, 25.10.2003 Nr.248 55
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