Moderne Kriege sind Zumutungen. Vielfältige Knappheits- und Verlusterfahrungen lassen in kriegsbeteiligten Gesellschaften soziale Gegensätze schärfer als in Friedenszeiten zutage treten. Dieses Konfliktpotenzial kann die politische Stabilität und die militärische Stärke einer kriegführenden Nation gefährden. Neben der äusseren, militärischen verläuft daher in der Regel auch eine «innere» Front, an der es die politische Loyalität der «eigenen» Bevölkerung zu sichern gilt. Versucht wird dies nicht zuletzt mit sozialpolitischen Mitteln: moderne Kriege sind «grosse Schrittmacher der Sozialpolitik». (Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Kronberg/Ts. 1949, 85) Freilich sind diese Massnahmen kein Abbild tatsächlicher kriegsbedingter Betroffenheit. Sie privilegieren vielmehr diejenigen Bevölkerungsgruppen, die für die Erreichung der militärischen Ziele unverzichtbar und für die innere Stabilität die grösste Gefahr sind.
Ein jüngst erschienener Sammelband zeigt eindrücklich, dass dies auch für die Schweiz zwischen 1938 und 1948 gilt, für ein Land also, das aufgrund seiner politischen Neutralität nur mittelbar in die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs verwickelt war. Doch auch die Schweiz war, zumindest ökonomisch, betroffen vom Krieg. Folgerichtig wurde dieser auch in der Schweiz zu einer Schlüsselphase sozialpolitischer Entwicklung. Der oft beschriebene Sonderweg der Schweiz zum sozialpolitischen Nachzügler zeigt sich quantitativ allerdings darin, dass anders als in den relevanten Vergleichsländern nach dem Kriegsende das Ausgabenvolumen der sozialen Sicherungssysteme wieder auf Vorkriegsniveau sank. Erst um 1960, so zeigen die Herausgeber (vielleicht etwas zu) komprimiert in ihrer Überblicksdarstellung, erreicht die Sozialquote wieder das Niveau der Kriegsjahre.
Es ist das Verdienst des Bandes, diesen quantitativen Befund einer «steckengebliebenen» Expansion qualitativ einzuordnen in die Geschichte der sozialpolitischen Entwicklung der Schweiz vom ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit. Dem eiligen Leser sei dafür die bündige tabellarische Darstellung der langen Linien sozialpolitischer Gestaltung im Überblicksartikel empfohlen. (20 f.) Wer sich Zeit nehmen und selbst die Verbindungen zwischen den verschiedenen sozialpolitischen Feldern und Entwicklungen freilegen will, dem werden die sechs Einzelbeiträge lesenswerte und gewinnbringende Lektüre sein. Sie zeichnen nicht nur die jeweiligen (Debatten um) Anpassungen in zentralen sozialpolitischen Feldern während des Kriegs nach. Sie beleuchten auch ihre wechselseitige diskursive Beeinflussung und langfristigen Effekte. Dabei steht die kriegsbedingt eingeführte Verdienstersatzordnung für Militärdienstleistende (EO) im Zentrum: Es wird deutlich, dass ihr Design einerseits jenem Ausgleichskassensystem entlehnt war, das Mitte der 1930er-Jahre für Familienzulagen entwickelt wurde; dass sie andererseits selbst jedoch wiederum zum Testlauf für die 1947 eingeführte AHV wurde und auch den institutionellen Rahmen bot, in den die im Jahr 2004 (!) eingeführte Mutterschaftsversicherung integriert werden konnte. Ein analoges Muster nationaler Umverteilung wurde für die Absicherung bei Arbeitslosigkeit erst 1976 ins Werk gesetzt, für Familienausgleichskassen – immerhin die diskursiven Wegbereiter und institutionellen Vorbilder der EO – gar in Ansätzen erst 2006.
Wofür stehen diese langen Schatten der sozialpolitischen Weichenstellungen während der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre? Zum einen wohl für Kontinuität der Akteurskonstellationen: Wie vor und nach dem Krieg, so verstanden es die Repräsentanten der Wirtschaft auch und gerade unter den spezifischen Bedingungen des Vollmachtregimes während des Kriegs, ihren sozialpolitischen Gestaltungsanspruch zu behaupten. Das hatte die Konsolidierung der ohnehin privatwirtschaftlich dominierten und entsprechend fragmentierten Landschaft der unterschiedlichsten Vorsorgeeinrichtungen zur Folge. Zu einem – aus anderen Ländern bekannten – kriegsbedingten Zentralisierungsschub kam es in der Schweiz (ausser bei EO und AHV) ebenso wenig wie zu einem grundlegenden Modellwechsel im System sozialer Sicherung. Vielmehr verfestigte sich während des Kriegs das spezifisch schweizerische Muster eines delegierenden, von nichtstaatlichen Akteuren abhängigen Sozialstaats.
Zum anderen stehen die sozialpolitischen Grundsatzentscheidungen in den Jahren 1938–1948 für die beachtliche Beharrungskraft normativer gesellschaftlicher Leitbilder und für die Aufrechterhaltung bekannter struktureller Selektions- und Exklusionsmechanismen: So orientierten sich sowohl die bereits existierenden als auch die in diesem Zeitraum etablierten Sozialversicherungen unübersehbar am traditionellen männlichen Ernährermodell. An der Bewahrung solch konservativer Geschlechterhierarchien änderte die kriegsbedingt vorübergehend deutlich stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen ebenso wenig wie die – institutionell durchaus bemerkenswerte – Gleichstellung der gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen mit jenen in öffentlicher und paritätischer Trägerschaft im Jahr 1942.
War der Krieg nun Schrittmacher im Sinn Prellers – oder Strukturfestiger? Insgesamt, das heisst bei Einbezug ihrer Leitbilder, Institutionen und sozialen Effekte, überwogen wohl zwischen 1938 und 1948 die Kontinuität wahrenden Elemente in der schweizerischen Sozialpolitik. Zu nachhaltigen, über die Kriegszeit hinausweisenden Umbrüchen kam es im Kriegsjahrzehnt nur bei EO und AHV, während die Entwicklungen auf anderen Gebieten (Lohn- und Beschäftigungspolitik, Pensionskassensystem, Arbeitslosen-, Kranken-, Invaliden und Unfallversicherung, Familienpolitik) in ihren Wirkungen zumindest begrenzt blieben, oft ambivalent oder nur temporärer Natur waren. Keineswegs auf allen Feldern kam es in der Schweiz zu jenem sozialpolitischen Umbruch, der dem Band seinen Titel gab. Angesichts der heterogen Entwicklungsmuster hätte sich ein Fragezeichen hinter der Buchüberschrift angeboten: Umbruch an der «Inneren Front»? Antwort: ein entschiedenes Sowohl-als-auch!
«Der Band liefert einige Argumente zur Reevaluation des sozialstaatlichen Sonderfalls Schweiz. Auch wenn die Gesamtsicht immer noch auf einen gebremsten Eintritt in die Ära der sozialstaatlichen Expansion deutet, gibt es Hinweise für eine Neueinordnung in das europäische Muster. Dies betrifft vor allem die Bewegungsrichtung des schweizerischen sozialstaatlichen Ausbaus, der stärker als bisher angenommen dem westeuropäischen Weg entsprach.»
Marcel Boldorf, Archiv für Sozialgeschichte
«Mit sieben Studien erfassen die Herausgeber und Mitautoren Matthieu Leimgruber und Martin Lengwiler den Wandel der schweizerischen Sozialpolitik in den Jahren 1938 bis 1948. In der 40-seitigen sehr informativen Einleitung [...] geben sie zugleich eine vorzügliche Einführung zur neuesten Literatur der Geschichte der Schweiz.»
Hans Ulrich Jost, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte