Die Schweiz war vom späten 19. Jahrhundert an ein «Treibhaus» für einflussreiche politische Utopien: In den gleichen Quartieren wohnten und an denselben Universitäten studierten spätere Baumeister des osteuropäischen Sozialismus, der Balkannationalismen, des Zionismus und des türkischen Nationalismus. Genf war ein Zentrum der armenischen wie auch er jungtürkischen Opposition gegen den Sultan Abdulhamid. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs nahm die osmanische Diaspora mit ihren verschiedenen ethnoreligiösen Clubs die Brüche vorweg, die die postosmanische Welt nach 1918 kennzeichnen. Einen wichtigen Anteil am Vordenken und Umsetzen einer nationalstaatlichen Vision hatten junge, in Genf und Lausanne sozialisierte türkische Akademiker. Sie stehen im Zentrum dieses Buches.
Mit guten Gründen fand die Nahostkonferenz von 1922/23, an der die Republik Türkei ihre diplomatische Weihe erhielt, in Lausanne statt: Nationaltürkische Akteure, die zum Teil vorher am Genfersee agiert hatten, boten hier den Westmächten die Stirn und setzten auf höchster diplomatischer Ebene das Prinzip des ethnonationalen Einheitsstaats im einst multiethnischen Kleinasien durch. In Verbindung mit dem Genfer Anthropologen Pittard suchte der «Vater der Nation», Kemal Atatürk, dieses Prinzip in den 1930er Jahren auch «wissenschaftlich» abzusichern.