Criminalgeschichte
«Am 4. November 1835 machte der Milchträger Heinrich Wydber von Unterbeinbach seinen gewohnten Weg über die Wallishofer Allmend durch das Spitalhölzli nach Zürich, um hier seine Milch zu verkaufen. Es war gegen sieben Uhr, als er durch das Spitalhölzli ging. (...) Am Fusse der Anhöhe, die er zur Fortsetzung seines Weges hinaufsteigen musste, sah er einen Mann auf dem Boden liegen, dicht neben dem Wege, nach dem Flusse hin. Er dachte, es sei ein Betrunkener, kümmerte sich daher nicht weiter um ihn und setzte seinen Weg fort.»
So beginnt «Der Studentenmord in Zürich» von Jodocus Donatus Hubertus Temme, dem meistgelesenen Krimiautor seiner Zeit. Der vermeintlich Betrunkene ist in Wahrheit auf geheimnisvolle Weise ermordet worden und wird als ein deutscher Student namens Lukas Lessing identifiziert. Ein politischer Mord? Lessing jedenfalls soll in regem Kontakt gestanden haben mit deutschen Flüchtlingen, die nach der gescheiterten Revolution von 1830 in die Schweiz emigriert waren.
Temme selber verstand seinen «Studentenmord in Zürich» als Wiedergabe eines «Kriminalprozesses über einen politischen Mord, der noch immer in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt» sei. Der auf Tatsachen beruhende Fall wird akribisch nachgezeichnet, Lessings Lebensumstände skizziert und die letzten Lebenstage anhand von Gerichtsakten und Zeugenaussagen rekonstruiert. Das ergibt insgesamt mehr als bloss die literarisch verarbeitete Wiedergabe eines Kriminalprozesses: Der Studentenmord in Zürich zeichnet ein sorgsam gestaltetes Sittenbild der Schweiz aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Als literarisch verarbeitete Gerichtsberichterstattung zählt der «Studentenmord in Zürich» zu den Vorläufern des modernen Kriminalromans, der mehr bietet als das blosse Lösen eines detektivischen Rätsels à la Poe oder Conan Doyle.