Bäuerinnen in Briefen
uha. Die Leute auf dem Lande, so eine Ansicht, die sich bis heute gehalten hat, hätten bis ins 20. Jahrhundert hinein ein dumpfes und geschichtsloses Leben geführt, das höchstens vom Rhythmus der Jahreszeiten bestimmt worden sei. Ein ganz anderes Bild vermittelt eine umfangreiche, vom Museum für Kommunikation sorgfältig edierte Briefsammlung aus dem Berner Oberland. Nach dem frühen Tod ihres Mannes hielt die Bäuerin Susanne Hiltbrand-Dubach ihre weitverzweigte Familie, deren Angehörige in Luzern, Solothurn und der Westschweiz, ja in Russland und Amerika lebten, mit einem regen Briefverkehr zusammen. In den häufig kollektiv genutzten Schriftstücken, die an mehrere adressiert waren, ausgetauscht wurden und oft Nachrichten von mehreren Autorinnen enthalten, ist natürlich häufig die Rede vom Wetter, von Krankheit, Nahrung und Not. Anlässlich eines Todesfalls schreibt 1890 die 21-jährige Luise ihrer Schwester in einem Anfall von agrarisch geprägter Melancholie: «Das menschliche Leben gleicht dem Grase, das heute schön u. grün, und morgen wird's abgemäht u. in den Ofen geworfen. Schön ist es zu sterben im besten Jünglingsalter, aber ach seine Angehörigen». Die Schreiberinnen und wenigen Schreiber berichten in je unverkennbarem, zuweilen ergreifendem Ton auch von Tanzvergnügen und Liebeszwisten, Wohnverhältnissen und Kindern, der Landwirtschaft und fremden Sitten, selten nur von sogenannt epochalen Ereignissen wie etwa den beiden Weltkriegen. Die mehr als 300 Briefe gestatten einen tiefen Einblick in eine im Verschwinden begriffene, bäuerliche Alltagskultur, in erstaunlich «subjektive» Mentalitäten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Museum für Kommunikation (Hg.): Walkenmatt. Briefe aus dem Diemtigtal, aus Russland und Amerika 1890-1946. Chronos-Verlag, Zürich 2001. 463 S., Fr. 38.-.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 30.03.2002 Nr.74 64
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
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