Krise und Neoliberalismus in der Schweiz
Seit der jüngsten Finanzkrise ist der Zauber des neoliberalen Projekts verflogen. Der Glaube an den Markt ist brüchig geworden, seine Hegemonie gilt nicht mehr als selbstverständlich. Gleichzeitig drängten sich mit neuer Vehemenz Fragen nach den Anfängen und dem Durchbruch des Neoliberalismus auf. Wie ist es dazu gekommen, dass Marktlogiken in immer weiteren Bereichen der institutionalisierten Politik, Lebenswelt und sozialen Beziehungen sowie Identitätsvorstellungen zum zentralen Organisationsprinzip geworden sind?
Ausgangspunkt für die Untersuchung dieser Fragen bilden historische Krisenerfahrungen. Die Autor_innen verstehen sie als Bruchstellen, an denen sich neoliberale Reformvorschläge und Regulationsmechanismen angeboten und durchgesetzt haben – oder gescheitert sind. Sie erkunden dabei historiografisches Neuland und diskutieren, ob und inwiefern der geschilderte Wandel als neoliberal bezeichnet werden kann.
Die Beiträge decken ein Themenspektrum ab, das von der Geschlechterpolitik über die Unternehmenskultur, die Agrar- und Sozialpolitik und die Arbeitswelt bis zu den Banken reicht. Als Akteur_innen und Schauplätze des Wandels fassen die einzelnen Kapitel Parteien und transnationale Planungsgremien, das Milieu der Alternativkultur, zivilgesellschaftliche Aktivist_innen und Verbände in den Blick.
«Regula Ludi und Mathias Ruoss [stellen] in ihrer höchst aufschlussreichen Einleitung zum vorliegenden Band die fundamentale Frage, ob sich diese Verknüpfung von Krise und Neoliberalismus wirklich eignet, um den Wandel der letzten Jahrzehnte zu analysieren und zu verstehen. Denn, so die Autorin und der Autor, Neoliberalismus in all seinen Spielarten erweist sich ‹gegenwärtig als ein äusserst schillerndes Phänomen, voller Widersprüche und Ambiguitäten›: positiv als Wahlfreiheit, negativ im Sinne von Freiheit als Nötigung, oder wie es im Titel heisst ‹Zwang zur Freiheit› – ein Oxymoron, schliessen sich die beiden Begriffe Zwang und Freiheit doch eigentlich gegenseitig aus. [...] Die Grundthese, dass sich das Krisenhafte und das Neue auf fruchtbare Weise verknüpfen lassen, verbindet die Forschungsbeiträge in diesem Band. Neuerungen, die mit dem Begriff des Neoliberalismus assoziiert werden, waren Bestandteil von Debatten zur Überwindung der Strukturprobleme: vom Ruf nach mehr Wettbewerb über die Privatisierung von Staatsbetrieben und der Flexibilisierung in fast allen Lebensbereichen bis zur Lobeshymne auf die individuelle Freiheit und Verantwortung. In ihrer Gesamtheit vermitteln die Beiträge ein vielseitiges und differenziertes, zum Teil auch unerwartetes Bild der Anfänge des Neoliberalismus. [...] Der Sammelband füllt nicht nur eine wichtige Lücke in der historischen Forschung, sondern gibt einen wichtigen Einblick in die Entwicklung des politischen Diskurses. Die Beiträge zeigen klar, dass mit ‹Neoliberalismus› in Bezug auf ergriffene Massnahmen zwar soziale Ungleichheiten thematisiert werden konnten, der Begriff jedoch die Umgestaltung des Sozialstaats nicht erklärte. Damit leistet der Band einen exzellenten Beitrag zur Historisierung und Kontextualisierung des Begriffs ‹neoliberal›.»