Entwicklungspolitische Solidarität
Die Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz zwischen Kritik und Politik (1975–1992)
Gebunden
2011. 464 Seiten, 44 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-1090-0
CHF 58.00 / EUR 58.00 
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Seit den 1970er-Jahren engagierten sich zahlreiche Menschen in der Schweiz für die sogenannte Dritte Welt. Ziel dieser Bewegung war es, über Öffentlichkeitskampagnen in der Schweiz ein Bewusstsein für die Probleme der Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas und für die Zusammenhänge zwischen dem Reichtum des Nordens und der Armut des Südens zu schaffen.
Im Zentrum des Buches steht das entwicklungspolitische Argument, dass weniger die Entwicklungshilfe ausgebaut, sondern vielmehr die wirtschaftlichen Beziehungen und Ausbeutungsverhältnisse verändert werden müssten. Die Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz thematisierte daher Welthunger, Fluchtgeld und Finanzplatz Schweiz, internationale Verschuldung, multilaterale Kooperation, Entwicklungshilfebudgets ebenso kritisch wie pionierhaft. Diese innenpolitische Kritik einer «entwicklungspolitischen Solidarität» beeinflusste Konfliktmuster und ideologische Konfrontationen.
Der Autor zeigt, wie der Solidaritätsbegriff im «verlorenen Jahrzehnt» der 1980er-Jahre und die Dritte-Welt-Bewegung zerfielen, dabei aber neue Formen von politischem Engagement entstehen liessen. Die Studie basiert auf Archivquellen entwicklungspolitischer Organisationen, schweizerischer Hilfswerke und politischer Gruppen und leistet einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte über Entwicklungspolitik, zur Rolle zivilgesellschaftlicher Bewegungen und zum Verständnis der jüngsten schweizerischen Zeitgeschichte.

Konrad J. Kuhn hat Geschichte und Volkskunde in Zürich studiert. In seinen Forschungsprojekten befasst er sich mit der Geschichte der Entwicklungspolitik und sozialer Bewegungen, mit der Wissensgeschichte der Volkskunde/Kulturwissenschaft und mit populärer Geschichts- und Erinnerungskultur. Aktuell lehrt und forscht er an der Universität Innsbruck.
Er ist Herausgeber der Zeitschrift «Schweizerisches Archiv für Volkskunde/Archives suisses des traditions populaires (SAVk/ASTP)».


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Inhalt
1. Einleitung

2. «Entwicklung heisst Befreiung» – das schweizerische Symposium der Solidarität 1981
2.1 «Nationale Manifestation der Solidarität mit der Dritten Welt» – Selbstverständnis und Idee der Bewegung
2.2 Die Hilfswerke im Abseits
2.3 Ziele und Themen des «Symposiums der Solidarität»
2.4 Aktionsformen der entwicklungspolitischen Gruppierungen und der Solidaritätskomitees
2.5 Entwicklungspolitisches Manifest für die 1980er-Jahre – Formierung einer Gegenkraft
2.6 Nachspiel im Parlament – oder: Umstrittene Entwicklungspolitik zwischenWirtschaftsinteressen und gesellschaftsverändernder Kraft
2.7 Neue Themen, heterogene Bewegung, alte Aktionsformen: Die Dritte-Welt-Bewegung am Beginn der 1980er-Jahre

3. Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaftskrise – die Aktion «Entwicklungshilfe ist eine Überlebensfrage» 1983–1984
3.1 Entwicklungshilfe des Bundes – Ausgangslage und Budget
3.2 Eine breite Allianz gegen die Budgetkürzungen
3.3 Memorandum der Landeskirchen zur öffentlichen Entwicklungshilfe
3.4 Die Aktion als politisches Instrument und Informations­kampagne
3.5 Erfolg und Ernüchterung – Aktionsverlauf und Zusammen­arbeit in der Dritte-Welt-Bewegung
3.6 Resonanz und Lippenbekenntnisse – die Petition im Parlament
3.7 Kritik und Widerspruch: Die Dritte-Welt-Bewegung unter Druck
3.8 Hilfswerke und politische Aktion zu Beginn der 1980er-Jahre

4. Fluchtgeld und Finanzplatz Schweiz – die Banken­initiative als entwicklungspolitisches Projekt 1978–1984
4.1 Fluchtgeld als entwicklungspolitisches Thema – Finanzplatz Schweiz und Dritte Welt
4.2 Der Chiasso-SKAndal: Kristallisationspunkt und Fanal
4.3 Die Initiative – Kampfansage an die «Bankenmacht
4.4 Die Bankeninitiative und die Dritte-Welt-Bewegung
4.5 Der Abstimmungskampf zwischen Entwicklungspolitik und helvetischer Realität
4.6 Unangreifbare Banken und «immunisiertes Bankgeheimnis» – die Bankeninitiative als taktischer Fehler?

5. «Bomben fürs Leben» oder «Problem der Satten» – Hunger zwischen Naturkatastrophe, Verteilungsproblem und Mitverantwortung
5.1 Wissenschaftstheoretischer Hintergrund: Neo-Althusianismus, Welternährungskrise und Welthungerdebatte
5.2 Biafra, Katastrophenhilfe und Hungeraktionen – Hilfswerke und der Hunger
5.3 «Hunger ist ein Skandal» – kritische Thematisierung des Hungers
5.4 Lernprozesse und Annäherungen – Hunger als Diskurs

6. Kreative Entschuldung oder Schuldenstreichung –
kontroverse Debatten um Verschuldung
6.1 «Die Schulden sind bezahlt!» – Thematisierungsversuche in der Schweiz
6.2 «Entwicklung braucht Entschuldung» – die Entschuldungs­petition der Hilfswerke zwischen Grosserfolg und Kritik
6.3 Kreative «Schuldenstreichung – selbst gemacht»
6.4 Die Verschuldung als zentrale weltpolitische Thematik mit schwieriger innenpolitischer Vermittlung – ein Fazit

7. IWF und Weltbank – Die Beitrittsfrage spaltet die Bewegung
7.1 Wirtschaftsinteressen und Sonderrolle – die Bretton-Woods-Institutionen und die Schweiz
7.2 Das Referendum zwischen Mobilisierung und Pfadabhängigkeit
7.3 Schwierige Positionsbezüge und Spaltungen – die Bretton-Woods-Institutionen und die entwicklungspolitischen Organisationen
7.4 «Weniger das Abstimmungsresultat als eine gute entwicklungspolitische Debatte» – der Abstimmungskampf unter Zeitdruck
7.5 Das Referendum als Fanal für den Umbruch der schweizerischen Dritte-Welt-Bewegung – ein Fazit

8. Das «Ende der Dritten Welt» als Ende der Solidarität?
8.1 Kritik an der Praxis – gegen «weisse Helfer» und ihre «tödliche Hilfe»
8.2 Entwicklungszusammenarbeit – bewegt sie noch? Grundsatzdebatten in der Umbruchphase
8.3 Ratlosigkeit und Ende der Utopien – eine Bilanz

9. Schlusswort

Pressestimmen
«In der konsequenten Einbettung der entwicklungspolitischen Diskussionen in gesellschaftliche, mediale und politische Kontexte der Schweiz liegt unübersehbar die Stärke von Kuhns Studie. […] Kuhn liefert einen innovativen, globalhistorisch geschulten Beitrag zur Geschichte der Dritte-Welt-Bewegung, der zu weiteren Fragen anregt.» Florian Hannig, H-Soz-u-Kult

«Besonders verdienstvoll an der vorliegenden Studie ist, dass es dem Autor gelingt, das umfangreiche Material so zu bündeln, dass sich die zahlreichen analytisch aufschlussreichen Nahaufnahmen entwicklungspolitischer Aktivität zu einem repräsentativen Panorama der komplexen Bewegungslandschaft zusammenfügen. Der Leser erhält so nicht nur präzise Einblicke in die Bemühungen der Bewegung, die politische Mechanik der Schweiz in ihrem Sinne zu beeinflussen, sondern auch eine stimmige Vorstellung vom Gesamtgepräge des Schweizer Dritte-Welt-Diskurses. […] Die Arbeit zeichnet ein detailgenaues Bild einer Bewegung, die sich letztlich vergebens gegen den Verlust ihrer politischen Deutungsmacht stemmte – und ergänzt damit die Forschung zur Schweizer Dritte-Welt-Bewegung um wesentliche, bislang unbeleuchtete Dimensionen.» Samuel Misteli, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte

«Konrad J. Kuhn zeigt mit seiner Studie anschaulich die Rolle und Bedeutung von Neuen sozialen Bewegungen im politischen System der Schweiz auf, bei dem mittels direktdemokratischer Einflussmöglichkeiten auf die Außenpolitik des Landes Einfluss genommen werden kann. Mit seinem diskurstheoretischen Ansatz werden die Wechselwirkungen zwischen Bewegung und Mehrheitsgesellschaft vor dem Hintergrund wechselnder gesellschaftlicher, kultureller wie auch politischer und ökonomischer Konstellationen sichtbar. Interessante Hinweise liefert die Studie auch für weitere Zusammenhänge, so zum Schweizer Bankgeheimnis, das 1984 durch den Kampf ‹Bankeninitiative› zu jenem nationalen Mythos und ‹unantastbaren Symbol der schweizerischen Unabhängigkeit› werden konnte und bis in die Gegenwart wirkt.» Markus Furrer, Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte

«Kuhns informative und spannend zu lesende Studie bietet eine gute Basis, um in der Schweiz die Entwicklungspolitik und Solidarität mit den Armen nach 1992 bis in die Gegenwart aufzuarbeiten - und von heute aus weiterzudenken.» Rebekka Wyler, Widerspruch

«Kuhn behandelt dieses an sich unerfreuliche Thema, so viel sei vorweggenommen, in überzeugender Art und Weise. Sein Buch ist gut geschrieben, sorgfältig redigiert und dadurch trotz seines Umfangs gut lesbar.» Bastian Hein, Archiv für Sozialgeschichte

«Der Zürcher Historiker und wissenschaftliche Assistent an der Universität Basel hat in einem jüngst erschienenen Werk den Aufstieg einer der grössten und erfolgreichsten sozialen Bewegungen der Schweiz aufgearbeitet.» Ralph Hug, WOZ

«Der Zürcher Historiker Konrad Kuhn hat ein lesenswertes Buch über die schweizerische Drittwelt-Bewegung veröffentlicht. Am Beispiel verschiedener Kampagnen zeigt er die Bruchstellen und den Zerfall einer einst kraftvollen Bewegung.» Pepo Hofstetter, Global+ (AllianceSud)

«Dieses reiche Buch bringt fast zwei Jahrzehnte ‹unserer› Geschichte, der Geschichte der Dritte–Welt–Bewegungen in der Schweiz, in grösser Differenziertheit zurück.» afrika–bulletin

Besprechungen
Geschichtswiss. Diss. Zürich; Begutachtung: J. Tanner, G. Krüger. – Der Autor untersucht die Entwicklung der schweizerischen Dritte-Welt-Bewegung in der Zeit von 1975 bis 1992 auf der theoretischen Grundlage einer „Kulturgeschichte des Politischen“ (27) und anhand einer umfangreichen Quellenanalyse. Im Mittelpunkt steht die Struktur der entwicklungspolitischen Kommunikation dieser Bewegung. Entsprechend werden die Kämpfe um den politischen Kommunikationsraum und das Erreichen von Deutungsmacht analysiert. Hervorgehoben werden einzelne Diskursereignisse, dazu zählen z. B. verschiedene Hungeraktionen, eine Entschuldungspetition oder auch das IWF-Weltbank-Referendum 1991-1992. Daraus ergeben sich dem Autor zufolge Forschungserkenntnisse, die von Bedeutung seien für eine Geschichte des entwicklungspolitischen Diskurses der Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz. Zum ersten arbeitet Kuhn eine äußerst wirksame Pfadabhängigkeit heraus, die mit dem 1981 angedrohten Referendum gegen einen Beitritt der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen beginnt. Diese Referendumsdrohung habe für die beteiligten Akteure in der Bewegung einigend und mobilisierend gewirkt, auch habe sich damit eine Referendumsfähigkeit bewiesen. Zweitens habe sich aber gezeigt, dass es an einer gemeinsamen theoretischen Basis gefehlt habe, sodass es zu einem Orientierungsverlust gekommen sei. Drittens seien in dem analysierten Zeitraum zahlreiche Brüche erkennbar, die der Autor als Verfallsprozess beschreibt. Ihren Höhepunkt fanden die unüberbrückbaren Differenzen und Meinungsverschiedenheiten über die inhaltliche Ausrichtung in der Thematisierung der Verschuldung ab 1989 und der Frage des Referendums gegen einen Bretton-Woods-Beitritt der Schweiz. Zugleich sei dieser Niedergang durch eine zunehmende Professionalisierung der Entwicklungszusammenarbeit gefördert worden. Hinzu sei die Einsicht gekommen, „dass ‚entwicklungspolitische Solidarität‘ eine Praxis darstellte, die Dritte Welt mit machtverstrickten Wissensproduktionen zu repräsentieren“ (421), was nach 1992 die Weiterexistenz der ehemals breiten schweizerischen Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz verhindert habe. Jan Achim Richter (JAR) Dipl.-Politologe, Doktorand, Universität Hamburg. PW-Portal. Portal für Politikwissenschaft
http://www.pw-portal.de/index.php?option=com_lqm&query=6&Itemid=2&task=showresults&ID_Buch_Link=41773