Arbeit – Körper – Öffentlichkeit
Berner und Bieler Frauen zwischen Diskurs und Alltag (1919–1945)
Broschur
2007. 512 Seiten, 0 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0798-6
CHF 68.00 / EUR 44.80 
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Lebensverhältnisse nicht bürgerlicher Frauen in Zwischenkriegszeit und Kriegsjahren sind das Thema dieser Arbeit. Es wird das Gewicht der Arbeit - entlöhnter und selbstverständlich eingeforderter - in diesen Frauenleben dargestellt. Wie Frauen mit Sexualität und Geburtenkontrolle, aber auch mit ihrem Körper im Umfeld von Prostitution umgingen, wird untersucht. Schliesslich werden Frauen gezeigt, die in der Öffentlichkeit aktiv wurden.
Die Untersuchung konzentriert sich auf Frauen in Bern und Biel. Die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen dieser beiden Städte kontrastieren mannigfach. Dies erlaubt, Frauen in einer wirtschaftlich und sozial diversifizierten Stadt den Frauen in einer (Uhren-)Industriestadt gegenüberzustellen.
Die Darstellung alltäglicher Existenz von Frauen wird bezogen auf die diskursive Verhandlung der Geschlechterverhältnisse im Rahmen einer (bürgerlichen) Geschlechterordnung, die in der Zeit heftiger wirtschaftlicher Krisen und politischer Auseinandersetzungen und Findungsprozesse neu definiert und legitimiert wurden.

Prof. Dr., ehem. Leitung Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der PH FHNW am Zentrum für Demokratie Aarau ZDA.
Schwerpunkte: Migrations-, Geschlechtergeschichte, Eugenik und Sozialpolitik, Politische Bildung, Geschichtskultur.


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Inhalt
I. Einleitung

II. Die Städte Bern und Biel in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg
1. Die Entwicklung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges
2. Die Entwicklung zwischen 1919 und 1945
2.1. Die Stadt Bern: wirtschaftliches und politisches Zentrum
2.2. Die Stadt Biel und die Modernisierung der Uhrenbranche
3. Zusammenfassung

III. Die soziale Zusammensetzung der weiblichen Bevölkerung der Städte Bern und Biel
1. Frauen in Bern und Biel
2. Zu- und Abwanderung
3. Beschäftigungsstruktur

IV. Frauenarbeit in Bern und Biel
1. Erwerbstätigkeit
1.1. Hausdienst
1.2. Arbeit im Gastgewerbe
1.3. Arbeit im Gewerbe: Krisenbekämpfung durch Qualifizierung?
1.4. Industriearbeit
1.6. Zusammenfassung: Kennzeichen der Erwerbsarbeit
2. Hausarbeit
3. Bezahlte und unbezahlte Arbeit zwischen Krise und Krieg

V. Weibliche Erwerbsarbeit und Geschlechterordnung
1. «Friedensordnung» und der Kampf um Qualifizierung
2. «Kampf dem Doppelverdienertum!»
2.1. Das Ringen um tiefe Frauenlöhne
2.2. «Doppelverdienertum»
2.3. Die alleinige Zuständigkeit der Frauen für Hausarbeit und Erziehung
3. «Hütern des Herdes»: «hehre Pflichten» statt Arbeit

VI. Körperpolitik
1. Der weibliche Körper als Thema gesellschaftlicher Diskurse
2. Abtreibung und Verhütung: der Abtreibungsdiskurs von der Zwischenkriegszeit bis 1945
2.1. Schwangerschaftsabbruch und Verhütung vor der Zwischenkriegszeit
2.2. Das Diskursgeschehen in der Schweiz bis in den Zweiten Weltkrieg hinein
2.3. Der Abtreibungsdiskurs im Kanton Bern
2.4. Kulminationspunkte des öffentlichen Diskurses: die Disziplinierung der öffentlichen Meinung
3. Prostitution in Bern und Biel
3.1. Diskursgeschichte(n) bis zum Ende des Ersten Weltkrieges
3.2. «Prostitution» und «Prostituierte» im Diskurs
3.3. Diskurshandeln im Kanton Bern
4. Geschlechtskrankheiten: die Fortsetzung eines Diskurses
4.1. Der Diskurs unter Ärzten
4.2. Die Haltung der Sittlichkeitskreise
4.3. Die «Schweizerische Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten»: sittliche Medizin oder medizinische Sittlichkeit?
4.4. Der Kontakt der «Schweizerischen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten» zu den Behörden
4.5. Der Diskurs im Kanton Bern
4.6. Diskurs im Alltag – Alltag mit dem Diskurs
5. Medizin und Geschlechterordnung: die Einbindung der weiblichen Sexualität

VII. Öffentlichkeit und Frauen
1. Frauen als Objekte öffentlicher Diskurse
1.1. Frauenbilder – Frauenleitbilder
1.2. Die «neue Frau»: die Konsumgesellschaft und Geschlechterordnung
1.3. Berner Frauen im SAFFA-Fieber: die national-konservative Bilderwelt der «geistigen Landesverteidigung»
2. Das Eindringen von Frauen in öffentliche Räume
2.1. Frauen auf der Strasse: die Marktunruhen von 1916
2.2. Frauen im öffentlich ausgetragenen Wirtschaftskampf: der Milchkrieg von 1930/31
2.3. Frauen im politischen Verein: Vom Arbeiterinnenverein zur Frauengruppe der SP Biel
3. Das öffentliche Auftreten der Frauen: der Spiegel ihrer sozialen Stellung

VIII. Schlusswort

Pressestimmen
«Mit ihrer breit angelegten Darstellung der Lebenssituation von Frauen unterer, nicht zum Bürgertum gehörender Schichten kommt Béatrice Ziegler einem Desiderat der Gender-Forschung nach. […] Es lohnt sich, angesichts der modischen Überhöhung beglückender Mutterschaft […] sich kundig zu machen, welchen Zwängen die Mehrheit der Frauen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts unterworfen war und in welchem Masse der Diskurs über normgerechte Weiblichkeit ihre Selbstbestimmung beschränkte.» Beatrix Mesmer, NZZ am Sonntag

«B.Z. signe ice un livre important qui ouvre des pistes et permet encore un peu mieux d'appréhender au niveau européen les logiques en matière d'emploi féminin, de politique familiale, de discrimination, de 'mise en tutelle des femmes', comme elle l'écrit.» Paul Pasteur, Bulletin d'Information de la Mission Historique Française en Allemagne

Besprechungen
Im Mittelpunkt von Béatrice Zieglers Abhandlung (Habilitationsschrift 1999, Universität Zürich) steht die Lebenssituation der Berner und Bieler Frauen der unteren Gesellschaftsschichten in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs, das heisst in einer krisenhaften Zeit. Zu den Angehörigen der unteren Schichten rechnet die Autorin jene Frauen, die aus existenziellen Gründen gezwungen waren, nebst der unentgeltlichen Haus- und Fami­lienarbeit bezahlte Arbeitsleistungen zu erbringen. Im ersten Teil widmet Ziegler sich der in aller Regel harten Erwerbs- und Hausarbeit, die den Alltag dieser Frauen prägte. Der zweite Teil befasst sich mit dem weiblichen Körper als Gegenstand gesellschaftlicher Diskurse. Im Fokus stehen Schwangerschaft, Abtreibung, Prostitution und Geschlechtskrankheiten. Der dritte Teil schliesslich rückt die Frage nach den Frauen als Objekten des öffentlichen Diskurses und ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit in den Vordergrund. Über allen drei Themenbereichen steht die übergreifende Frage, ob die Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs die Lebensbedingungen der Unterschichtfrauen in der Schweiz grundlegend veränderten und ob sich daraus neue, besondere Bedingungen weiblicher Existenz ergaben. Béatrice Ziegler schöpft aus einem vielfältigen Fundus von Verwaltungs- und Wirtschaftsquellen, Gerichtsakten, Statistiken und Aktenmaterial der Gesundheits- und Sozialbehörden, den sie methodisch mit einer Verknüpfung von sozialgeschichtlichem Vorgehen und Diskursanalyse erschliesst. Im Vordergrund steht dabei die Kategorie «Geschlecht», welche die materielle und soziale Existenz von Frauen und Männern in besonderem Mass prägt. Dies vermag die Autorin mit ihrer Darstellung eindrücklich zu erhärten. Von den drei Themen Arbeit, Körper und Öffentlichkeit nehmen die beiden ersten den breitesten Raum ein. Die Arbeit – ob sogenannt ökonomisch relevante Erwerbsarbeit oder unbezahlte Hausarbeit – prägte den Alltag der Frauen. Arbeitsfreie Zeit gab es spärlich, der Spielraum dafür war aus finanziellen, aber auch aus moralischen Gründen gering. Auf Arbeit suchende junge Frauen übten die Städte auch in der Zwischenkriegszeit eine starke Sogwirkung aus, wie Ziegler am Beispiel von Bern und Biel zeigt. Die beiden Städte unterschieden sich wirtschaftlich und von ihrer Sozialstruktur her stark: die Verwaltungsstadt Bern, die gleichzeitig auch wirtschaftliches und politisches Zentrum war, stand der Uhrenmetropole am Jurasüdfuss gegenüber. In beiden Städten herrschte ein stark nach dem Geschlecht segregierter Arbeitsmarkt, und zwar sowohl innerhalb der Branchen als auch der Betriebe. Für die Frauen gab es nur wenige Arbeitsfelder, im Allgemeinen waren es die tradi­tionellen weiblichen Aufgabenkreise. Die Dienstbotentätigkeit war in Bern selbst in der Zwischenkriegszeit noch immer ein wichtiger Broterwerb. Besonders beim häuslichen Dienen war der Abhängigkeitsgrad der Frauen von ihrem Arbeitgeber hoch. Auch der Handel und die Verwaltung verzeichneten einen hohen Frauenanteil, allerdings primär auf der Stufe «Bürofräulein». In der industriellen Produktion war es praktisch ausschliesslich die ungelernte oder angelernte und dementsprechend schlecht entlöhnte Arbeit, die von den Frauen ausgeübt wurde. In Bern stellte im untersuchten Zeitraum die boomende Textilindustrie, in Biel die Uhrenindustrie die wichtigste Branche für die weibliche Erwerbstätigkeit dar. Bezüglich der gesellschaftlichen Wertschätzung war die Frauen­arbeit zwischen 1919 und 1945 durch eine relative Abwertung gekennzeichnet. Der Anteil erwerbstätiger Frauen nahm in der Zwischenkriegszeit und während des Kriegs ab, besonders unter den Verheirateten. Das «Doppelverdienertum» wurde bereits nach dem Ersten Weltkrieg zum Thema, entwickelte sich aber in den 1930er-Jahren zu einer eigentlichen öffentlichen Debatte. Auch war die weibliche Erwerbstätigkeit sozial noch wesentlich weniger abgesichert als die Männerarbeit. Ziegler kommt ausserdem zum Schluss, dass die Kriegswirtschaft im untersuchten Kanton Bern nicht den katalysierenden Einfluss auf die weibliche Erwerbstätigkeit hatte, wie bisher öfter verbreitet. Die landläufige Behauptung, während des Kriegs hätten die Frauen die Männer in den Fabriken ersetzt, sei unhaltbar. Der zweite Teil von Zieglers Habilitationsschrift, der auf die Körperpolitik fokussiert, ist ein Beispiel der Anwendung von Foucaults Theorie über die Historizität und die diskursive Konstruktion der Körperlichkeit. Ziegler erfüllt damit ein Forschungsdesiderat in einem Themenbereich, der seit den 1980er-Jahren in den Vordergrund gerückt ist. Damals setzte sich im Zuge von Foucaults Konzept der diskursiven Konstruktion des Subjekts die Erkenntnis durch, dass der Körper nicht unabhängig existiere, sondern eingebettet in ein Netz kultureller Codes und insofern eine wandelbare Konstruktion in der historischen Entwicklung darstelle. Es ist Zieglers Verdienst, sich als eine der ersten Forscherinnen mit einer breit angelegten Studie an zwei Schauplätzen der Schweiz mit dem Frauenkörper als Gegenstand gesellschaftlicher Diskurse befasst zu haben. Auch in den Diskursen über Körperpolitik stand die Frage nach der Gültigkeit der herkömmlichen Geschlechterordnung im Vordergrund: neue Legitimationen für die alte Geschlechterrollen-Hierarchie waren gefragt. Auch in der untersuchten Zeitperiode bestand noch immer ein breiter Konsens darin, dass das Kinderkriegen eine gesellschaftliche Grundaufgabe jeder Frau darstellte. So blieb denn auch der Abtreibungsdiskurs in der Zwischenkriegszeit weiterhin lebendig. Nebst der von Ziegler ebenfalls dargestellten Problematik, die verheiratete Frau zur Mutterschaft verpflichten zu wollen, macht gerade der Abortdiskurs deutlich, dass den Frauen die Selbstbestimmung über ihren Körper bis auf weiteres nicht zugestanden wurde. Vielmehr lässt sich anhand der Körper­politik nachweisen, dass die herkömmliche Geschlechterordnung weiterhin aufrecht erhalten blieb. Es waren die allgemein gültigen Gesellschaftsnormen, die das Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht, aber auch dem eigenen Körper gegenüber bestimmten. So reduzierte sich das Recht auf Selbstbestimmung auf das normierte Bild von Weiblichkeit und Mutterschaft. Dies führte dazu, dass die Frauen nebst ihrer Erwerbsarbeit oftmals alleine für die Betreuung und Erziehung des Nachwuchses zuständig waren. Aussereheliche Geburten hatten auch im untersuchten Zeit­raum in aller Regel die soziale Diskriminierung der Mütter zur Folge. Was den dritten Themenbereich an­belangt, das Agieren in der Öffentlichkeit, zeichnet Ziegler die Realität eines an­hal­tend von Männern dominierten Handlungsraums nach. Die Frauen verfügten nur über wenig Eigenbestimmung; im untersuchten Zeitraum verstärkte sich die geschlechterdifferente gesellschaftliche Integration. Immerhin kam es mancherorts zu gewerkschaftlicher Organisation der Frauen im Rahmen ihrer Erwerbsarbeit, wo sie ihre Interessen vertraten. Es ge­lang den Frauen in der untersuchten Zeitperiode jedoch nicht oder nur in Ansätzen, sich politisch zu etablieren. Die Politik erschloss sich ihnen nur auf jenen Gebieten, auf denen die Männer sich aufgrund der ihnen zugeschriebenen Geschlechtscharak­tere besondere Eignung erhofften. So erhielten die Frauen auch im Kanton Bern beispielsweise Einsitz in den Kirchen- und Schulkommissionen. Die herkömmliche Geschlechterordnung wurde also auch während der Zwischenkriegs- und der Kriegszeit nicht grundlegend verändert, sie passte sich lediglich an die moderneren Legitimationen an. Es kam zwar verschiedentlich die Forderung nach der Gleichstellung der Frauen auf, da die neu auf­tretenden gesellschaftlichen Anforderungen nach einer eigenständigeren Stellung der Frauen in der Gesellschaft sowie nach ihrem direkteren Bezug zum Staat verlangten. Gleichzeitig stellte man aber «die natürliche Bestimmung der Frau» nicht infrage. Ziegler ist daher nicht erstaunt, dass die Annahme des Frauenstimmrechts in der Schweiz im Vergleich zu anderen Staaten Europas relativ spät erfolgte; sie wundert sich vielmehr, dass es überhaupt zur Annahme dieser Initiative kam. Die thematisch breit angelegte Ab­hand­lung bildet einen wichtigen Markstein in einem für die Schweiz noch arg lückenhaften Forschungsbereich. Sie bietet eine Fülle von (auch lokalgeschichtlich) spannenden Ergebnissen. Wünschbar gewesen wären allerdings eine etwas klarere Strukturierung des mit 17 Seiten eher langatmigen Schlussworts sowie ein Namensverzeichnis, damit sich der Leserschaft die vielen Namen von Personen mit teilweise gesamtschweizerischer Bedeutung auf einen raschen Blick erschlössen.
Karin Huser (Zürich) in: Traverse 2009, Heft 1