Keine weitere Geschichte der Medien, sondern ein prägnanter Blick darauf, wie Medialität gedacht wurde, bevor es überhaupt Medien im geläufigen Sinne gab. Unter den Stichworten Fülle und Mangel entfaltet sich das reiche Spektrum eines frühen Experimentierens mit medialen Möglichkeiten.
Fülle und Mangel machen, so die These dieses Buches, den Grundzug aller medialen Formen aus. Immer versprechen diese, etwas aufzubewahren, zugänglich zu machen oder zu übertragen, das ansonsten vielleicht verloren ginge, unzugänglich oder wirkungslos bliebe. Immer sind sie aber auch in Gefahr, dasjenige, worauf sie sich beziehen, zu verstellen, zu verzerren oder ganz zu verfehlen. Das lässt sich besonders gut an der mittelalterlichen Kultur verfolgen. In ihr waren die medialen Formen Orte vermittelter Unmittelbarkeit. Sie transportierten eine Präsenz des Göttlichen, aber auch das Wissen um dessen Unerreichbarkeit. Das vorliegende Buch verfolgt den vielschichtigen und faszinierenden Umgang mittelalterlicher Autoren mit dem Wort und der Schrift, dem Körper und der Materialität, ihr Experimentieren mit medialen Möglichkeiten avant la lettre. Erstmals entsteht hier eine zusammenhängende, interpretatorisch dichte Geschichte mittelalterlicher Medialität, die auch auf das moderne Denken des Medialen ein neues Licht wirft.
1. Einleitung
Alterität – Eigenlogik – Fülle und Mangel – Mediale Perspektiven – Historische Mediologie
2. Modell
Eine paradoxe Karte – Christologisch-mediologische Modelle und Metaphern – Hochmittelalterliche Systematisierungen – Zeichen – Medium absolutum
3. Präsenz
Erscheinungen – Christliche Umbesetzungen – Heilspräsenz – Realpräsenz – Präsenz performativ – Hypermedialität und Antimedialität – Präsenz der Passion – Komplexitäten – Transformationen
4. Wort
Verbum – Gebet – Muster und Vollzüge – Christliche Magie – Übertragungen – Performative Ästhetik der Liebe – Materialisierung – Poetische Spielräume – Signaturen
5. Schrift
Erhabenheit – Umcodierung – Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit – Sichtbarkeit – Performativität – Inszenierung – Hybridität – Alte und neue Buchstaben
6. Körper
Körper/Medium – Stigmata – Texturen – Exemplar – Der eigene Körper – Selbsbeobachtung
7. Materialität
Materialität und Transzendenz – Materialien, Zirkulationen, Aufladungen – Materialer Sinn – Ein Tempel des Unverfügbaren – Autoreflexivität – Neue Materialität
8. Zeitenraum
Heilsgeschichte und Passion – Loca sancta – Übertragungen – Wege – Nachbildungen
9. Metonymie
Figuren und Dinge – Vera icon – Der Rock Christi – Hybridität – Fragwürdigkeiten
10. Ausblick
Vermittelte Unmittelbarkeit – Aufschreibesysteme – Noch einmal: Fülle und Mangel
Register
«In seinem […] überaus lesenswerten Buch zeichnet der Zürcher Literaturwissenschaftler Christian Kiening unter Rückgriff auf die (eigene) Forschung und eine Vielzahl von philosophischen, theologischen und literarischen Texten – genannt seien unter anderem Augustinus, Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach, Bonaventura, Thomas von Aquin, Heinrich Seuse, Francesco Petrarca, Meister Eckhart, Geoffrey Chaucer und Nikolaus von Kues – mittelalterliche Reflexionen über Medialität im Kontext des christlichen Glaubens nach. […]
Dabei vermag er anschaulich zu zeigen, dass Medialität in zahlreichen Variationen ein Oszillieren zwischen Ewigkeit und irdischer Zeit, Unverfügbarkeit und Präsenz, Differenz und Identität sowie zwischen Darstellung und Verkörperung implizierte.»
«Hans Ulrich Gumbrecht hat sich seinerzeit gegen den Eindruck zur Wehr gesetzt, zu einem religiösen Denker geworden zu sein. Diesem Eindruck wirkt bei Kiening der historische Abstand entgegen, stellt er die eingangs genannte Trias von Alterität, Präsenz und Medialität doch unter das Vorzeichen einer mittelalterlichen Religiosität, die so nicht mehr die unsere ist. Dass sie dennoch zum Gegenstand einer hochreflektierten Sehnsucht werden kann, führt Kienings brillant geschriebene, souverän zwischen forschungsgesättigtem Überblick und punktgenauer Einzelanalyse hin- und herwechselnde Monographie dem Leser eindrucksvoll vor Augen.»
«Dass die Mühen einer schwierigen Lektüre sich aber durchaus lohnen, zeigen die auf die Einleitung und die Modell-Vorstellung folgenden Kapitel, die anhand der Stichworte Präsenz, Wort, Schrift, Materialität, Zeitenraum und Metonymie die transzendierenden Aspekte mittelalterlicher Medialität, also ihre Prozesshaftigkeit, in den Blick nehmen. Vor allem immer dann, wenn K. in nachvollziehbaren Schritten eine dichte Interpretation medialer Aspekte von mittelalterlichen Texten bietet, wie etwa im Körper-Kapitel, ist die Lektüre auch für den mediävistisch interessierten Allgemeinhistoriker mit großen Gewinn verbunden. [...] K.s deutende Darstellung gehört zu dem Feinsten, was sich derzeit in einer weit ausufernden Bettelordensliteratur findet. Wer also die Mühen eines mitunter sperrigen Textes auf sich zu nehmen bereit ist, sieht sich durch K.s Buch reich belohnt.»