Die «Verbrecherfrage» trieb die Politik und Öffentlichkeit des Fin de siècle um wie kaum ein anderes Thema. Angeregt durch eine internationale Reformbewegung, formulierten Juristen, Sozialpolitiker und Ärzte eine Kriminalpolitik, die schliesslich Eingang ins Strafgesetzbuch von 1937 fand und die schweizerische Rechtsordnung bis heute prägt. Neu war, dass bei der Bestrafung nicht mehr allein die Straftat, sondern auch die Persönlichkeit des Rechtsbrechers berücksichtigt wurde.
Der Autor untersucht die komplexe Vorgeschichte des schweizerischen Strafgesetzbuches aus einer sozial-, politik- und rechtshistorischen Perspektive. Dazu situiert er die Kodifikation im Kontext einer transnationalen Reformdiskussion, die einer präventiv ausgerichteten Verbrechensbekämpfung zum Durchbruch verhalf. Ebenfalls werden die langwierigen Implementierungsprozesse nachgezeichnet, die nicht nur die Bundes-, sondern auch die kantonale Ebene betrafen. Das vielschichtige Reformvorhaben führte im Endeffekt zu einer nachhaltigen Transformation des Strafrechts, das neu als integraler Teil der modernen Sozialstaatlichkeit konzipiert wurde. Künftig sollte der Richter auch über medizinische, fürsorgerische und sichernde Massnahmen entscheiden und Zwangserziehung oder Schutzaufsicht anordnen können. Die Folgen der Verschmelzung von Repression und Prävention waren allerdings zwiespältig: einer integrativen Stossrichtung, die auf Individualisierung und Milde setzte, stand die forcierte Stigmatisierung, Pathologisierung und «Unschädlichmachung» von rückfälligen, psychisch kranken oder «arbeitsscheuen» Rechtsbrecherinnen und Rechtsbrechern gegenüber.
Der Weg zur Reform: Entwicklungen, Institutionen und Akteure Zur Entwicklung des Strafrechts in der Schweiz im 19. Jahrhundert
Die Perspektive der Disziplin: Modernisierungen von Strafvollzug und Armenpolizei
Kriminalitätsdebatten: Von der bürgerlichen Öffentlichkeit zum Expertendiskurs
Aufbruch zu neuen Horizonten: Internationale Reformbewegung und nationale Strafrechtskodifikation Im Sog des Internationalismus: Die Gefängnis- und Strafrechtsreformbewegung
Die Internationale der Kriminalisten
Louis Guillaume: frühe Mittlerfigur zwischen nationaler und internationaler Ebene Die nationale Agenda: Rechtsvereinheitlichung und Kodifikation des Strafrechts
Der lange Kampf für die Rechtseinheit
Der Zirkel der Kriminalisten: Personelle Netzwerke und fachliche Konsolidierung Transnationale Perspektiven: Strafrecht als soziale Verteidigung
Die Internationale Kriminalistische Vereinigung und die Reform der Freiheitsstrafe
Strafrechtsreform in der Schweiz: Überlagerung zweier Reformstränge
Kriminalpolitische Leitbilder und Konzepte im grenzüberschreitenden Austausch Zirkulationen in umgekehrter Richtung: Schweizer Beiträge zur internationalen Strafrechtsdebatte
Zwischenfazit und Ausblick
Vom Programm zum Gesetz: Verbrecherbilder, Präventionslogiken und Sanktionskonzepte Verbrecherbilder: Straffälligkeit als Gesellschaftswidrigkeit
Kriminalität als Krankheit der Gesellschaft
Verbrechen als Krankheit des Individuums Kriminalitätsprophylaxe durch sichernde Massnahmen
Sozialpolitik und die Hygiene der Kriminalisten: Verbrechensverhütung ausserhalb des Strafrechts
Individuelle Rückfallprävention: Stooss’ Konzept der sichernden Massnahmen
Der Spezialfall: Die Rückfälligenverwahrung Ausbau und Konsolidierung des Massnahmenrechts
Sichernde Massnahmen zwischen Fürsorge und Strafe
Umstrittene Autonomie: Die Entstehung des Jugendstrafrechts
Auf dem Weg zur Zweispurigkeit von Strafen und Massnahmen Die andere Seite der Reform: Die bedingte Strafaussetzung
Einführung und Ausgestaltung der Strafaussetzung in der Schweiz
Bewährungsstrafen: Selektive Milde für «würdige» Gelegenheitsübertreter
Unter dem Schwert des Damokles: Bedingte Strafaussetzung als Erprobungssystem Zwischenfazit
Politisierung und Implementierung der Strafrechtsreform Etappen der Politisierung: Von der Rechtseinheit zur Realisierung des Strafgesetzbuchs
Die Anstaltsreform: Zaghafte Neuerungen im Strafvollzug
Neue Kooperationsformen: Die Integration privater Akteure in den Strafvollzug
Die Kriminalpolitik der Kantone: Nachvollzug oder Vorwegnahme?
Umsetzungsprobleme nach dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs
Zwischenfazit: Pfadabhängigkeiten und Ungleichzeitigkeiten
Fazit: Kriminalpolitik zwischen Integration und Repression Zirkulationen: Leitbilder der modernen Verbrechensbekämpfung im transnationalen Diskurs
Hybridisierungen: Verbrecherbilder und Sanktionskonzepte
Langer Weg zum Gesetz: die Realisierung und Implementierung des Strafgesetzbuchs
«Das StGB von 1942 geniesst in Juristenkreisen einen legendären Ruf. […] Nun beurteilt der Historiker Urs Germann die angebliche gesetzgeberische Sternstunde mit einer wissensgesättigten, anregenden Studie neu, welche die von der freisinnigen Mehrheit der Bundesversammlung vorangetriebene Strafrechtsreform bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgt.»
Urs Hafner, Neue Zürcher Zeitung
«Insgesamt gesehen handelt es sich um eine Abhandlung, die nicht nur dem historisch Interessierten ans Herz zu legen ist, sondern die auch von demjenigen mit Gewinn gelesen wird, dem es «nur» um die Probleme des geltenden Rechts geht. Diese können nämlich nur dann angemessen verstanden werden, wenn man auch ihre (Entstehungs-)Geschichte einbezieht. Wer nicht weiss, welche Intentionen und Konzepte hinter bestimmten Regelungskonzepten standen, wird Mühe haben, diese angemessen zu verstehen und sinnvoll weiterzuentwickeln. Und vor diesem Hintergrund muss die Strafrechtsgeschichte der Schweiz als etwas angesehen werden, was nicht nur für eine kleine Gruppe von rechtsgeschichtlich Interessierten von Bedeutung ist, sondern auch diejenigen etwas angeht, die sich als Strafrechtswissenschaftler oder als Praktiker mit der Anwendung des geltenden Rechts befassen.»
Wolfgang Wohlers, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht
«Urs Germann legt eine inhaltlich fundierte und durchwegs plausible, hervorragend geschriebene Analyse der Kriminalpolitik und Strafrechtsreform in der Schweiz vor, welche bereits zum Standardwerk avanciert ist. Der breite Einbezug der internationalen Strafrechtsreformdiskussion verhilft der Studie auch zu Relevanz innerhalb der entsprechenden europäischen Forschung.»
Lukas Gschwend, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte