Psychiatrie und Strafjustiz

Entstehung, Praxis und Ausdifferenzierung der forensischen Psychiatrie am Beispiel der deutschsprachigen Schweiz 1850–1950

Gebunden
2004. 600 Seiten
ISBN 978-3-0340-0678-1
CHF 78.00 / EUR 52.00 
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«Ernst S. ist ein hereditär belasteter, krankhaft veranlagter Mensch, ein Dégénéré supérieur, ein Psychopath. Als solcher hat er ohne sein Verschulden verbrecherischen Trieben gegenüber eine krankhaft geminderte Widerstandskraft, ist daher auch nur als gemindert zurechnungsfähig zu betrachten. [...] Ein Mensch, der auf einer so tiefen Stufe anlangt, moralisch so verkommen und abgestumpft ist, muss als gemeingefährlich bezeichnet werden.» Gutachten der Berner Irrenanstalt Münsingen von 1908.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gerieten immer mehr Männer und Frauen, die eine Straftat begangen hatten, ins Visier der Psychiatrie. 50 Jahre später gehörten psychiatrische Experten, die die Zurechnungsfähigkeit und Verwahrungsbedürftigkeit von angeklagten Personen zu beurteilen hatten, längst zum Gerichtsalltag. Humanwissenschaftliche und deterministische Erklärungen von Delinquenz erhielten dadurch ein wachsendes Gewicht. Eine wichtige Etappe dieser Entwicklung stellte das schweizerische Strafgesetzbuch von 1942 dar, das die Zusammenarbeit von Strafjustiz und Psychiatrie auf eine neue Basis stellte. Für die betroffenen Männern und Frauen hatte dieser Trend zu einer Verwissenschaftlichung des Strafverfahrens ambivalente Folgen. Der Chance, in den Genuss einer Strafmilderung zu kommen, stand das Risiko gegenüber, durch psychiatrische Diagnosen stigmatisiert und als «gemeingefährliches Individuum» auf unbestimmte Zeit in einer psychiatrischen Anstalt interniert zu werden.
Das Buch untersucht die vielschichtige Entwicklung der schweizerischen Gerichtspsychiatrie im Zeitraum zwischen 1850 und 1950. Anhand von statistischen Daten, Gerichts- und Krankenakten aus dem Kanton Bern zeichnet der Autor einerseits ein exemplarisches und differenziertes Bild der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis um die Jahrhundertwende. Andererseits untersucht er die Standespolitik der Schweizer Psychiatrie im Zusammenhang mit den juristischen und politischen Debatten um die Vereinheitlichung und die Reform des schweizerischen Strafrechts. Einen Bogen zur aktuellen Debatte über die Verwahrung «gemeingefährlicher» Täter und Täterinnen und zur heutigen Situation der forensischen Psychiatrie in der Schweiz schlägt schliesslich die Analyse der problematischen Auswirkungen des Strafgesetzbuchs von 1942 auf die wechselseitigen Beziehungen von Strafjustiz und Psychiatrie.

ist promovierter Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der UEK Administative Versorgungen, freier Mitarbeiter am Institut für Medizingeschichte der Universität Bern und Leiter der Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen der Stadt Bern.


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Pressestimmen

«Germanns handwerklich sauber gearbeitete, durch Abdruck der wichtigsten Gesetzestexte und ein Personenregister abgerundete Studie bietet einen auch für die strafrechtliche Forschung wertvollen und beeindruckenden Einblick in die gerichtspsychiatrische Begutachtung, deren Erträge über die Schweizer Verhältnisse hinaus zumindest auch für den deutschsprachigen Raum verallgemeinerungsfähig sein dürften.»
David von Mayenburg, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte