«Ni dedans - ni dehors»
Der Spielraum der schweizerischen Handelspolitik 1945-1966
Die schweizerische Aussenhandelspolitik nach 1945 ist bisher, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im Gegensatz zu ihrem Stiefkind, zur Aussenpolitik, kaum systematisch aufgearbeitet worden. Dabei hatte schon Heinrich Homberger, Direktor des Vororts und Schlüsselfigur der damaligen Handelspolitik, rückblickend vermerkt, «dass der Aussenhandel für die Schweiz einen elementaren und insbesondere den dynamischen Bestandteil ihrer Aussenpolitik darstellt». Im Vordergrund des Interesses von Dominique Dirlewanger, Sébastien Guex und Gian-Franco Pordenone standen nun die Entscheidungsprozesse in so wichtigen Fragen wie dem Beitritt zur OECE und zum Gatt sowie die Strategie gegenüber den europäischen Integrationsbestrebungen. Die Autoren rechtfertigen den Endpunkt ihrer Untersuchung (1966) mit der Bedeutung des Beitritts zum Gatt, dem Rücktritt Hombergers und rein praktisch mit der Aktensperre von 30 Jahren.
Schritte aus der Isolation
Zu Beginn wird der Aufschwung des schweizerischen Aussenhandels bis 1970 kurz rekonstruiert mit Hinweisen auf den sich verändernden Anteil der wichtigsten Handelspartner Deutschland, Benelux, USA und Frankreich sowie auf die wachsende Bedeutung der Güter mit hoher Wertschöpfung. Der mühevolle Prozess der Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen 1945 und 1952 ist gekennzeichnet durch die geschickte Doppelstrategie von Neutralität und Solidarität nach der bekannten Kurzformel des damaligen Aussenministers Max Petitpierre und das Mittel der Kreditgewährung. Mit dem Einlenken der alliierten Besatzungsmächte gelingt der Schweiz die allmähliche Befreiung aus der Isolation (Abkommen mit den Benelux-Staaten und Deutschland). In diese Zeit fallen auch - mit gewissen Souveränitätsvorbehalten - die Beitritte zur OECE und zur Europäischen Zahlungsunion, die durch fortschreitende Liberalisierung des Handels und Einführung eines gemeinsamen Zahlungsverkehrs die Verwirklichung des Marshallplans erleichtern sollten. Damit war der Weg frei für den schrittweisen Übergang von bilateralen zu multilateralen Handelsbeziehungen. Ausschlaggebend für diesen Durchbruch war allerdings weniger die Solidaritätspolitik der Schweiz als vielmehr der nach 1945 einsetzende Kalte Krieg, was die Autoren etwas zu wenig gewichten.
Keine europäische Freihandelszone
Weniger positiv sieht die Bilanz im Fall des Uhrenkonflikts mit den USA und der Strategie gegenüber der 1957 entstandenen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aus. Als Nichtmitglied des Gatt konnte sich die Schweiz gegen die protektionistischen Massnahmen der USA nur schlecht zur Wehr setzen. Und den Vorteilen der wirtschaftlichen Partizipation in Anbetracht der engen Verflechtung mit dem europäischen Markt stand die Angst vor dem Verlust der Souveränität bei einem Beitritt zu einer letztlich politischen Union gegenüber, so dass man sich auf die Kompromissformel «ni dedans, ni dehors» einigte. Der von der Schweiz unterstützte englische Vorschlag einer europäischen Freihandelszone aus der EWG und den übrigen OECE-Ländern, welche die Zollhoheit weniger beeinträchtigt hätte, scheiterte aber nicht zuletzt am Veto Frankreichs, das seit 1955 wegen einer Finanzkrise und aussenpolitischer Rückschläge einen zunehmend protektionistischen Kurs steuerte.
Eine merkliche Verbesserung des handelspolitischen Spielraums brachte dagegen das Jahr 1960 mit dem Beitritt zur Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) und dem provisorischen Beitritt zum Gatt. Der stufenweise Abbau der Zölle lediglich bei den Industriewaren machte die EFTA im innenpolitischen Diskurs zu einer valablen Lösung, um dem Druck der EWG zu widerstehen. Mit dem Beitritt zum Gatt partizipierte die Schweiz, bestens gerüstet mit einem griffigeren neuen Zolltarif, am zunehmend liberalisierten Welthandel. Aus «neutralité et solidarité» war «neutralité et participation» geworden (Freymond). Nachdem ein Assoziationsbegehren der Neutralen bei der EWG 1963 gescheitert war, konzentrierte sich die Schweiz auf eine verstärkte Zusammenarbeit im Schosse der EFTA. In der Folge engagierte sie sich auch für die von den USA lancierte Kennedy-Runde mit dem Ziel eines weiterführenden weltweiten Zollabbaus, was ihr 1966 den Vollbeitritt zum Gatt ermöglichte und den Uhrenkonflikt mit den USA beendete.
Politik ohne Politiker
Das letzte Kapitel bringt eine aufschlussreiche quantitative Analyse der Exponenten der damaligen schweizerischen Handelspolitik nach dem angelsächsischen Modell des «policy network». Als zentrale Entscheidungsträger unter den von den Autoren aufgeführten 15 «Kollektivakteuren» und 385 Einzelpersönlichkeiten entpuppen sich die Handelsabteilung des Volkswirtschaftsdepartements - ihr stand damals der spätere Bundesrat Hans Schaffner vor - und der Vorort des Schweizerischen Handels- und Industrievereins mit Heinrich Homberger. Die mit zahlreichen Grafiken, Statistiken und 38 Kurzbiografien angereicherte Untersuchung kommt zum Schluss, dass die Handelspolitik zwischen 1945 und 1966 insgesamt recht erfolgreich gewesen sei, Bundesrat und Parlament indessen bloss eine untergeordnete Rolle gespielt hätten.
Peter Stettler
Dominique Dirlewanger, Sébastien Guex, Gian-Franco Pordenone: La politique commerciale de la Suisse de la Seconde Guerre mondiale à l'entrée au GATT (1945-66). Chronos-Verlag, Zürich 2003. 328 S., Fr. 48.-, _ 32.90.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Samstag, 29.05.2004 Nr.123 83
(c) 1993-2004 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 2
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung