Dieser Sammelband ist ein Novum in der Landschaft der schweizerischen Historiografie. Er ist sowohl eine Darstellung der Makroentwicklung der Schweizer Wirtschaft unter den Bedingungen militarisierter nationaler Märkte wie eine Sammlung von Mikrostudien, welche erlauben, das wirtschaftliche und soziale Verhalten schweizerischer Unternehmensangehöriger in kriegswirtschaftlich geprägten Beschaffungs- und Absatzmärkten zu betrachten. Der Sammelband geht auf die Initiative der an der Universität Zürich tätigen Wirtschaftshistoriker Roman Rossfeld und Tobias Straumann zurück. Sie versammelten eine zumeist jüngere Generation von mit Unternehmensgeschichte befassten Historikerinnen und Historikern zu mehreren Kollegien und stellten deren aus Unternehmensarchiven geschöpfte Beiträge für diesen Band nach Branchen zusammen: Textil-, Maschinen- und Elektroindustrie (Seidenfirma Schwarzenbach, Sulzer in Winterthur, Maschinenfabrik Oerlikon); Uhren- Metall Rüstungsindustrie (Longines, Georg Fischer in Schaffhausen, von Moos in Emmenbrücke, SIG in Neuhausen); chemische und Pharmaindustrie (Sunlight in Olten, Ciba in Basel); Ernährungs- und Genussmittelindustrie (Nestlé, Maggi, Hero und Suchard) sowie Banken und Versicherungen (Schweizerischer Bankverein, «Zürich» Versicherungs-Gesellschaft und Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft). Ein sehr repräsentatives Sample, auch wenn man sich eine Firma wie die Bally-Schuhfabriken dazugewünscht hätte.
In der Gesamtschau sind die Beiträge eine Bereicherung und zugleich eine Herausforderung für die Schweizer Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts. Einmal weil sie einen Beitrag zur bisher kaum untersuchten Gesellschaftsgeschichte der Schweiz während dem Ersten Weltkrieg leisten und weil sie ein seit Jahrzehnten tradiertes Narrativ der gesellschaftsgeschichtlich inspirierten Schweizer Geschichte hinterfragen: die Erzählung von der Verarmung der Schweizer Lohnverdiener durch die Teuerung und der unverschämten Bereicherung der Kapitalisten während des Ersten Weltkriegs, welche den Klassengegensatz zuspitzte und im Landesgeneralstreik kulminierte.
Die hier versammelten Untersuchungen lassen auf eine wesentlich differenziertere Entwicklung schliessen. Den Export orientierten Firmen gelang es durchs Band weg, sich nach einem kurzen Einbruch 1914 geschickt in die europäische Kriegswirtschaft zu integrieren, ihre Umsätze zu steigern und in der Tat ihre Gewinne massiv zu erhöhen. Mit wenigen Ausnahmen (zum Beispiel MFO, Oerlikon) wurden diese Gewinne jedoch nicht einfach nur in die Privatsafes abgeführt, sondern für die Restrukturierung und Neuausrichtung der Unternehmen nach dem Krieg, für das Auffangen der Nachkriegskrise und für die Verbesserung der Sozialleistungen der Arbeitenden verwendet. Allerdings meist auf Druck der Belegschaft oder als Reaktion auf den Landesgeneralstreik.
Die Fallstudien machen klar, dass es sich lohnen würde, die Phase 1917/18 neu aufzuarbeiten und dabei Unternehmens- und regionale Unterschiede zu konturieren sowie sozial- und kulturgeschichtliche Betrachtungsweisen anzuwenden.
Für die Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkriegs zeigen die Fallstudien auf, wie die Grossunternehmen eines neutralen Landes meist mit Erfolg zwischen Entente und Zentralmächten navigierten und welch hoher Stellenwert den Tochterfirmen beidseits der Front und den persönlichen Kontakten in beiden Kriegslagern zukam. Letzteres war insbesondere wichtig, um die Beschaffung von Rohstoffen sicherzustellen oder wenn Schweizer Produkte (Maggi, Hero und Suchard) öffentlich als Tarnprodukte im Dienste des Gegners diffamiert wurden. In der Gesamtheit zeigen die Unternehmensbeispiele auch im Hinblick auf die Lage der Schweizer Wirtschaft während des Zweiten Weltkriegs, wie die Schweizer Industrie auf Gedeih und Verderb mit den europäischen Beschaffungs- und Absatzmärkten verbunden ist – in Friedens- und Kriegszeiten. Und zugleich zeigen sie, wie wichtig die Zäsur des Ersten Weltkriegs für die weitere Entwicklung der Schweizer Grossunternehmen im 20. Jahrhundert war.
Der Band stellt ein gelungenes Unternehmen dar, welcher wichtige Bausteine für eine längst überfällige Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg liefert und Grundlagen für eine schweizerische Wirtschaftsgeschichte des kurzen 20. Jahrhunderts bereitstellt.
Rudolf Jaun (Zürich) in Traverse 2010/2