Geschlecht und Umgang mit Wissen
Gender im Fokus akademischer Nachwuchsförderung
Über vier Jahre hinweg haben sich junge Forscherinnen und Forscher monatlich zu einem Graduiertenkolleg getroffen, im Rahmen dessen das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern bei der akademischen Nachwuchsförderung etwas ausgeglichen werden sollte. Das interdisziplinäre Projekt, an dem die Universitäten Basel, Bern, Genf und Zürich beteiligt sind, legt einen ersten Zwischenbericht vor.
He. Die Schweiz ist durch den Ausgang der Bundesratswahlen erneut in den Ruf geraten, nicht gerade ein frauenfreundliches Klima zu haben. Dass jedoch für die Förderung weiblicher Kader im Bereich der Hochschulen einiges unternommen wird, illustriert ein seit 1998 bestehendes Projekt, das nun erstmals mit einer Publikation an die Öffentlichkeit tritt. Beteiligt am vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützten Graduiertenkolleg sind die Disziplinen Geschichte, Soziologie, Betriebswissenschaft und Politologie. Im Zentrum stehen die Forschungsschwerpunkte Gender, Wissen und Professionalisierung, die wiederum miteinander verbunden werden.
Wissen, Gender, Professionalisierung
Ausfluss der naturgemäss etwas unübersichtlichen Veranstaltung ist ein Band mit historisch- soziologischen Studien, herausgegeben von der Soziologin Claudia Honegger (Universität Bern), der Sozialpsychologin Brigitte Liebig (Zürich), welche die Beiträge koordiniert hat, sowie der Historikerin Regina Wecker (Universität Basel).* Die Trägerschaft des Projekts umfasst im Weiteren die Historikerin Brigitte Studer (Bern), die Soziologin Thanh-Huyen Ballmer-Cao (Genf), die Betriebswissenschafterin Margrit Osterloh und den Historiker Jakob Tanner (beide Zürich). Sie alle pflegen das intensive Gespräch mit jungen Forschenden und werden das Projekt des Graduiertenkollegs auch in Zukunft begleiten. Dass gerade in ihrem Bereich, in der Wirtschaftswissenschaft Selbstorganisation klein geschrieben werde und das Humboldt'sche Ideal von der Einheit von Forschung und Lehre auf der Strecke bleibe, bemängelte Margrit Osterloh bei der Präsentation des Sammelbandes.
Diagnostiziert wurde von den Initiantinnen zunächst eine Krise der Wissensgesellschaft, die zwar in aller Munde ist, die aber die Antworten darauf, «wer was wissen muss, warum, wie genau und für wie lange», schuldig bleibt. Sollen sich vor allem die ökonomisch relevanten Wissensstrukturen verändern? Wie kann erworbenes konzeptionelles Wissen auf neue Bereich übertragen werden? Um Antworten auf solche Fragen zu finden, gilt es an konkreten Beispielen zu rekonstruieren, wie Fachwissen einst entstanden ist, wie dieses vielleicht andere Wissensbestände in den Hintergrund gedrängt hat, welche Akteure dadurch allenfalls bevorzugt wurden. Auch Prozesse der Professionalisierung von Wissen mit den oftmals paradoxen Folgen für die «Ordnung des Wissens» wollen untersucht werden. Hier kommen die Frauen ins Spiel, denn traditionelle Institutionen, die Wissen repräsentieren, waren und sind zum Teil noch heute männerdominiert. Die Feminisierung von Berufsfeldern wiederum hat einen Prestigeverlust und eine Abwanderung der Männer zur Folge.
Subjektive Bedeutung des Berufs
Welches Gewicht das berufliche Handeln in einer Biografie heute einnimmt, wird an je einem männlichen und einem weiblichen Beispiel illustriert. Trotz Angleichungen zwischen den Geschlechtern im Bereich Ausbildung prägen traditionelle Vorstellungen von Normalität die betrieblichen Strukturen. Allerdings wirkt sich die Geschlechtszugehörigkeit nicht in jedem Fall und in jedem Bereich auf die Wahrnehmung von Optionen in der Berufswelt aus. Wichtig ist etwa die Unterstützung eines Berufsziels durch die Eltern. Angesichts des rasanten Wandels der Berufswelt stellt sich auch die Frage, wieweit ein Einzelner eine Abweichung vom eigentlichen professionellen Feld - und damit auch den Verzicht auf die Anwendung von Fachwissen - in Kauf nimmt und diesen Verlust in andern Lebensbereichen (Familie, Sport) kompensiert. Die Trennlinie, zu diesem Schluss kommt die Soziologin Caroline Bühler in ihrem Beitrag, zwischen der Bedeutung, die der Beruf für Frauen und für Männer einnimmt, ist aufgebrochen.
Von Mechanismen des Ein- und Ausschlusses im ärztlichen Beruf handelt Jeannette Voirols historische Untersuchung über die ersten Schweizer Ärztinnen. Die Untersuchung geht aus vom Wandel, den das klassische Professionsverständnis in der Medizin (Frauen nur in Pflegeberufen) erfährt, indem sich die Universitäten für das weibliche Geschlecht öffnen. Dies geschieht nicht, ohne die Angst der Männer vor der neuen Konkurrenz zu mobilisieren und geschlechtsspezifischen Argumenten auf beiden Seiten Auftrieb zu geben. Die Überlagerung von widersprüchlichen Geschlechterbildern prägt auch heute die Laufbahn in medizinisch-akademischen Berufen.
Professionalisierung und Selbständigkeit durch Unternehmensgründung ist das Thema des Beitrages des Soziologen Peter Schallberger. Er nimmt bei seinen Fallrekonstruktionen Bezug auf das Konzept des «charismatischen Selbstvertrauens», das Ulrich Oevermann in Erweiterung des Max Weber'schen herrschaftssoziologischen Charisma-Begriffs entwickelt hat. Das bedeutet, dass der Einzelne auch in krisenhaften Entscheidungssituationen handlungsfähig bleibt im Vertrauen auf zahlreiche Faktoren, deren Verlässlichkeit eigentlich erst die Zukunft zeigt. Inwiefern geschlechtsspezifische Ressourcen den erfolgreichen Gang in die Selbständigkeit unterstützen können und inwiefern dies in der Geschichte allenfalls bereits belegt wurde, bleibt ein Forschungsdesiderat. Auf jeden Fall ist nicht allein Professionalisierung gefordert, sondern auch eine erhöhte kommunikative Kompetenz.
Weitere Beiträge der Nachwuchsforscher widmen sich dem Wissen als Grundlage des Handelns in Organisationen. Strukturtheorie und Theorien des Alltagshandelns werden hier verknüpft. Noch wenig untersucht ist die Bedeutung des Wissens um Gleichheit und Differenz der Geschlechter als Bestandteil und Strukturprinzip jener intelligenten (das heisst lernfähigen) Systeme, die Organisationen sind. Gender Studies in den Bereichen Ökonomie und Soziologie tragen immerhin der sozialen Konstruktion von Geschlecht Rechnung, die das Denken und Handeln von Organisationsmitgliedern mitbestimmt. Elena Folini und Nicoline Scheidegger erforschen das Lernen innerhalb von Organisationen aus der Geschlechterperspektive. Sie stellen dabei unter anderem folgende Fragen: Geht das Wissen von Frauen genauso in das organisatorische Regelsystem ein wie jenes von Männern? Sind es immer die effizientesten Regeln, die sich durchsetzen?
Brigitte Liebigs Beitrag untersucht, wie wirtschaftliche Unternehmen die Gleichstellung der Geschlechter in ihren Leitbildern problematisieren und verhandeln. Das Interesse liegt dabei auch bei den kontextuellen Bedingungen, die progressive Entwürfe von Chancengleichheit in einer «Unternehmensphilosophie» möglicherweise begünstigen. Die Diskussion berührt moralische Werte ebenso wie Arbeitsplatzsicherung und betriebliche Produktivität.
Weitere Texte in dem anregenden Lesebuch, das mitunter auch schwierige methodologische Ansätze interdisziplinären Forschens präsentiert, gehen der Produktion und der Weitergabe von Wissen nach und berühren so auch die gesellschaftlichen Auswirkungen wissenschaftlicher Praxis. Von den vielen Anregungen zu innovativer Forschung, die das Graduiertenkolleg generiert, wurden hier nur einige aufgenommen. Das Projekt Wissensgesellschaft und Geschlechterbeziehungen wird weitergeführt, die Basis soll um naturwissenschaftliche Fächer erweitert werden.
* Claudia Honegger, Brigitte Liebig, Regina Wecker (Hrsg.): Wissen, Gender, Professionalisierung. Historisch-soziologische Studien. Chronos-Verlag, Zürich 2003.
Publiziert mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung
Neue Zürcher Zeitung INLAND Mittwoch, 31.12.2003 Nr.303 15
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