Geschichtsschreibung weist meist explizit oder implizit einen «Helden» auf, der die Narratio strukturiert. Gugerlis Held ist der Diskurs beziehungsweise sind - meist pluralisiert - die «Redeströme». Schon im Titel macht der Autor diese Intention glasklar: Es geht ihm um die Redeströme, welche die Elektrifizierung der Schweiz vorbereiteten, begleiteten, absicherten und weitertrieben, nicht dagegen um eine neue Gesamtgeschichte der Elektrifizierung der Schweiz. Gugerli skizziert in der Einleitung zur Druckfassung seiner Zürcher Habilitationsschrift zunächst Grundelemente gän-giger Erklärungsmuster für die rasche und erfolgreiche Elektrifizierung der Schweiz: die nationale Eigenart der Schweizer, positive Eigenschaften ihrer Nachbarvölker kreativ zu kombinieren; der Mangel an Kohle bei gleichzeitigem Reichtum an Wasserkraft; ein effizienter Kapitalmarkt; gut qualifizierte Arbeiter und Techniker sowie wagemutige Unternehmer. Diese fünf Elemente bildeten - so Gugerli - seit rund 100 Jahren Grundmuster von Erklärungen der Schweizer elektrowirtschaftlichen success story. Mit wenigen Strichen verwirft Gugerli diese Topoi als wenig erklärungskräftig. Sein Ansatz ist nun, die Genese dieser Erklärungsmuster selbst zum Gegenstand seiner Untersuchung zu machen. Die Tatsache, dass das Modell trotz geringer Validität sich so lange halten konnte, versteht Gugerli als «integrales Moment im Verlauf der Elektrifizierung der Schweiz». Sein Ziel ist, «die historische Entwicklung einer bestimmten Redeweise über Elektrifizierung nachzuzeichnen, ihre perzeptionsvereinheitlichende Rolle im Elektrifizierungsprozess zu verstehen und schliesslich auch ihre Handlungsrelevanz aufzuzeigen». (11) Weder in der Technikgeschichte, noch in der Wirtschaftsgeschichte findet er dazu adäquates methodisches Rüstzeug. Statt dessen stützt er sich auf Ansätze der neueren Wissenschaftsgeschichte, insbesondere von Bruno Latour, der am Beispiel der «Pasteurisierung Frankreichs» gezeigt habe, wie der Erfolg von Wissenschaft nicht allein von der immanenten Qualität wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern vielmehr davon abhängt, ob es dem Wissenschaftler gelingt, «bestehende Interessen zu verschieben, zu übersetzen und mit [...] eigenen Interessen zu verknüpfen», (12) Allianzen herzustellen. Mit diesem methodischen Instrumentarium analysiert Gugerli nun den elektrotechnischen bzw. elektrowirtschaftlichen Diskurs, den er definiert als «die Gesamtheit von Begriffen, Sprechakten und Redewendungen [...], welche aufeinander bezogen waren und [...] den hier zur Diskussion stehenden technischen Entwicklungsprozess nicht nur stützend begleitet, sondern letztlich überhaupt erst ermöglicht haben». (13) Quellenmässig stützt sich Gugerli auf die Auswertung von Schweizer Tageszeitungen, vor allem der Neuen Zürcher Zeitung, von Fachorganen wie die Schweizer Bauzeitung, ausserdem auf die Sichtung von Firmenarchiven und Planungsunterlagen bei Kommunen und Kantonen. Seine Beispiele wählt er primär aus Stadt und Kanton Zürich.
Gugerlis Studie indentifiziert drei Hauptphasen der Schweizer Elektrifizierung. Eine erste seit Beginn der 1880er Jahre - 1880 wurde erstmals auf einem eidgenössischen Sängerfest in Zürich elektrische Beleuchtung in grossem Umfang eingesetzt - stand im Zeichen elektrischer Beleuchtung als «Luxuskonsum» und endete um 1890 mit der allgemeinen Desorientierung des Systemstreits zwischen Anhängern des Gleichstroms und des Wechselstroms. Ab etwa 1893/94 folgte wieder eine Phase beschleunigten Wachstums dank der auf der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt am Main 1891 erzielten Durchbrüche, die bis zu einer Sättigungskrise um die Jahrhundertwende anhielt. Die dritte Phase ab 1904 wurde dann vom Grosskraftwerkbau bestimmt und hielt bis zum Ersten Weltkrieg an. Gugerlis Darstellung folgt im wesentlichen auch dieser Chronologie, weil seine Diskursgeschichte erklären möchte, wie jeweils die Wachstumsgrenzen und Hindernisse am Ende der jeweiligen Phase durch die «Redeströme» überwunden wurden.
Im ersten Kapitel «Elektrische Utopie, Repräsentation und Luxuskonsum» untersucht er das Entstehen von «Assoziationsofferten» im frühen Diskurs der 1880er Jahre, was auf begriffliche Verbindungen, aber auch auf praktische Anwendungen verweisen soll. Im zweiten Kapitel «Übertragung, Verteilung, Anschlüsse» zeigt Gugerli am Beispiel mehrerer Elektrifizierungsprojekte der 1880er Jahre, wie sich das «Paradigma der Übertragbarkeit» von elektrischer Kraft formierte und damit «anschlussfähige Referenzpunkte» für weitere Projekte vorlagen. Das dritte Kapitel «Konsensbildung und elektrowirtschaftliches Wachstum» skizziert die Orientierungskrise des Systemstreits Ende der 1880er Jahre, akzentuiert geradezu euphorisch die Bedeutung der Frankfurter Ausstellung, die mit der spektakulären Fernübertragung hochgespannten Drehstroms die sich abzeichnende Lähmung und Blockierung überwinden half. Die Ausstellung als «kommunikatives Grossereignis» (23) habe für die Schweiz eine Vereinheitlichung des Diskurses bewirkt; über mehr als ein Jahrzehnt habe man danach in der Schweiz «in denselben Kategorien, mit derselben Sprache über Elektrotechnik» gesprochen. (111) Elektrifizierung assoziierte sich untrennbar mit «technischem Fortschritt», Zukunft wurde modelliert als künftige, planbare Gegenwart, was auch die Gewissheit über die zukünftige Richtung technischen Fortschritts als Planungsgrundlage neuer Kraftwerksprojekte schuf.
Im vierten Kapitel «Redeströme und praktischer Kontext der Elektrotechnik» konstruiert Gugerli zunächst das «Systemsyndrom», das heisst die der Elektrifizierung vorausgehende Herstellung virtueller und realer technischer Netzwerke, angefangen vom Netz von Vermessungspunkten, das die neue Landesvermessung ab Mitte des 19. Jahrhunderts über die Schweiz legte, über die Strassen-, Eisenbahn- und Telegraphennetze bis hin zur folgenreichen Modellierung der Schweiz als «Gewässernetz». Aufgezeigt wird die Prägung von Anschauungsweisen, an die Elektrotechnik anschliessen konnte. Der Begriff «Anschlussfähigkeit» ist hier zentral und wird insbesondere am engen
ideellen wie realen Konnex zwischen Wasser- und Stromversorgung in Zürich exemplifiziert. Wenn Gugerli aus diesen Beobachtungen aber das allgemeine Ar-gument entwickelt, die Modellierung von Stromversorgung habe sich primär konzeptionell an der Wasserversorgung orientiert, so widerspricht dies zumindest den Elektrifizierungsprozessen in reichsdeutschen Städten wie auch den Thesen Schivelbuschs, der angesichts der Lichtdominanz der frühen Elektrifizierung die Ausrichtung auf die Gasversorgung betont. Möglicherweise war die Ausrichtung auf die Wasserversorgung doch eher ein Schweizer Spezifikum, wo in Zürich etwa eine Druckwasserversorgung für Kleingewerbetreibende den Aspekt der Motorenenergie bereits wesentlich früher akzentuierte als in deutschen Städten.
Im fünften Kapitel «Institutionen der Elektrizitätswirtschaft» stellt Gugerli zunächst die Enteignungsfrage im Zusammenhang mit dem Leitungsbau sowie die technischen Risiken der Elektrotechnik als «Grenzen des Wachstums» vor. Die einsetzende Institutionalisierung und Professionalisierung des wirtschaftlichen wie wissenschaftlichen Feldes dienten letztlich dazu, diese Grenzen durch Verbandspolitik - die Fixierung technischer Qualitätsstandards - durch eine ausgedehnte Publizistik und eine formale Akademisierung hinauszuschieben beziehungsweise aufzuheben. Der entstehende elektrowirtschaftliche Diskurs überwand auch die «Ängstlichkeit des Kapitals», ab Mitte der 1890er Jahre zeigte sich das anfänglich zurückhaltende Schweizer Kapital zunehmend bereit, die sehr kapitalintensiven Elektrifizierungsprojekte mitzutragen. Als sich allerdings um 1900 zeigte, dass viele der Projekte keineswegs die erhofften Renditen erzielten, half auch der Diskurs nicht mehr unmittelbar aus der Krise. Deren Überwindung war dann Resultat einer «Politisierung der Elektrifizierung» (Kap. 6). Bereits Anfang der 1890er Jahre war die Forderung nach Übernahme sämtlicher Wasserkräfte durch den Bund laut geworden. In der Folge formierte sich mittelfristig die Vorstellung von den Wasserkräften als nationalem Schatz, der die Schweiz für das Fehlen von Kohle entschädige. Gugerli zeigt, wie sich die Politisierung der Elektrifizierung über die in der Frühphase extrem wichtige kommunale Stufe ab 1904 auf kantonaler Ebene mit dem Bau von Grosskraftwerken fortsetzte, die auch die Versorgung ländlicher Gebiete beabsichtigten, bis der Bund schliesslich 1908 verfassungsmässig die Oberaufsicht über die Wasserkräfte reklamierte, die er 1916 im Wasserrechtsgesetz unter Bundeshoheit nahm.
Gugerlis «Redeströme» präsentiert eine provozierende, ungewohnte, innovative Sicht der Schweizer Elektrifizierung. Seine Kritik am «autodynamischen Fortschrittsmodell» herkömmlicher Darstellungen ist stichhaltig und überzeugend; Elektrifizierung bedurfte - mehr noch als andere Technologien des späten 19. Jahrhunderts - der diskursiven Begleitung und Absicherung. Zugleich war sie aber auch nicht - das betont Gugerli wiederholt - Resultat eines gigantischen Manipula-tionsprozesses.
Studien dieser Art - Gugerli erhielt 1995 den Rudolf-Kellermann-Preis für Technikgeschichte des Vereins Deutscher Ingenieure - könnten die hartnäckig evolutionären Vorstellungen über die Entstehung und Durchsetzung grosstechnischer Systeme nachhaltig erschüttern. Kritisch anzumerken sind allerdings einzelne Detailaussagen oder auch Fehlstellen: So unterschätzt Gugerli etwa die Rolle der Strassenbahnen für den Lastausgleich in den 1890er Jahren und kurz nach 1900; die Gaswirtschaft als wichtigste Konkurrenztechnologie und kommunaler Kontext kommt eindeutig zu kurz, die Frage, wie die «Redeströme» bei der Masse potentieller Stromkonsumenten «ankamen», welche Praxis sie auslösten, wird kaum gestellt. Leider lässt sich Gugerli nicht selten von seinen «Redeströmen» selbst mitreissen, so dass der Diskurs sprachlich zum quasipersonalen Akteur wird: «Elektrotechnische und elektrowirtschaftliche Diskurse haben sich [...] an ihre eigene Anschlussfähigkeit gehalten und in der Praxis auf jenen komplexen Möglichkeitsraum gestützt [...].» (185) Immer wieder verfällt er, wenn er die Ergebnisse seiner Quellenarbeit auf einen allgemeinen Nenner bringen möchte, in die geschraubt klingende Sprache der Diskursanalyse, die seine Thesen eher verunklart und zuspitzt. Letztlich fragt man sich, ob diese Konzentration auf «Redeströme» nicht den Diskursen einen - in Umkehrung früherer Vernachlässigung - überhöhten Stellenwert einräumt, ob sie tatsächlich schlüssig erklären kann, warum nicht nur die «Redeströme», sondern auch die «elektrischen Ströme» sich so gestalteten, wie dies in der Schweiz geschah.
Dieter Schott (Darmstadt)
traverse - Zeitschrift für Geschichte - Revue d'histoire 1999 / 01