Ab etwa 1870 traten Kunst und Psychologie in ein enges Verhältnis zueinander. In ganz Europa entstanden Sammlungen sogenannter Irrenkunst, und die psychiatrische Anstalt rückte in den Brennpunkt gesellschaftlicher und normativer Aushandlungen. Manche Psychiater sahen Parallelen zwischen der Kunst der Avantgarde, den «Primitiven» und Werken ihrer Patienten, während sich Künstler ihrerseits im Bild des von der Gesellschaft ausgeschlossenen Verrückten wiedererkannten.
Künstlerisch tätigen Patientinnen und Patienten wurden dennoch selten Autorschaft und ein Resonanzraum zugestanden. Die vorliegende Untersuchung rekonstruiert für die Schweiz, welchen Diskursen ihre Werke eingeschrieben wurden und wie sie als Autorinnen und Autoren den Ort, an dem ihr Werk entstand, auf ästhetischer Ebene verhandeln. Das Zeitbild, in das sie aus ungewohnter Perspektive Einblick geben, ist ebenso kostbar wie selten.
Der Gegenstand der Untersuchung
I WECHSELWIRKUNGEN ZWISCHEN PSYCHOLOGIE UND KUNST IM 19. JAHRHUNDERT
1 Bilder des Wahnsinns
1.1 Narren und Hexen
1.2 Aufklärung
1.3 Bilder für die Wissenschaft
1.4 Biedermeier
1.5 Fazit
2 Traumforschung
2.1 Assoziationsketten
2.2 Grenzerfahrungen des Denkens
2.2.1 Zufallsverfahren und ambivalente Bilder
2.2.2 Rauscherfahrungen
2.2.3 Imaginäre Welten
2.3 Introspektion
3 Die Linie als Botschaft
3.1 Magnetismus und Spiritismus
3.2 Vermitteln der Botschaft: Ambroise Tardieu und Victor Hennequin
3.2.2 Der Holzstich von Victor Hennequin
3.2.3 Eine Farbtafel
4 «Pathologie» der Kunst
4.1 L’arte nei pazzi
4.2 Gesunde und kranke Kunst?
4.3 Ursprünglicher Schaffensdrang
5 Sinnesempfindungen
5.1 Erkenntnistheorie und Konstruktivismus
5.2 Gestaltpsychologie
5.3 Nachbilder und Synästhesien
Fazit: Normierung versus Subjektivierung
II DIE SITUATION IN DER SCHWEIZ
6 Die Produktionsbedingungen
6.1 Vormoderne Psychiatrie
6.1.1 Moralische Behandlung
6.1.2 Anstaltsarchitektur
6.1.3 No-restraint
6.2 «Moderne» Anstaltspsychiatrie
6.2.1 Öffnung der Anstalten nach aussen
6.2.2 Familienpflege
6.2.3 Arbeit als Therapie
6.2.4 Psychoanalyse
6.2.5 Medizinische «Kuren»
6.2.6 Ausbildung des Pflegepersonals
6.2.7 Soziale Heilung
6.3 Fazit: Anpassung und Positionen
7 Sammlungen
7.1 Bern und Waadtland
7.1.1 Sammlung Morgenthaler
7.1.2 Irrenheilanstalt Münsingen
7.1.3 Asile de Cery in Lausanne
7.1.4 Les Rives in Prangins
7.2 Genf und Seeland
7.2.1 Die Psychiatrische Anstalt Bel-Air in Genf
7.2.2 Maison de santé de Préfargier
7.2.3 Heil- und Pflegeanstalt Marsens
7.2.4 Psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Rosegg
7.3 Zürich und Aargau
7.3.1 Pflegeanstalt Rheinau
7.3.2 Irrenheilanstalt Burghölzli
7.3.3 Heil- und Pflegeanstalt Königsfelden
7.4 Ostschweiz
7.4.1 Irrenanstalt Münsterlingen
7.4.2 Sanatorium Bellevue
7.4.3 Irrenanstalt Breitenau
7.4.4 Appenzell-Ausserrhodische Heil- und Pflegeanstalt Krombach
8 Der Resonanzraum
8.1 Walter Morgenthaler
8.2 Hermann Rorschach
8.3 Eugen Bleuler
8.4 Carl Gustav Jung
8.5 Ludwig Binswanger
8.6 Karl Gehry
8.7 Arthur Kielholz
8.8 Moritz Tramer
Fazit: Einsatz des visuellen Mediums in der Anstalt
III VIER MONOGRAFISCHE UNTERSUCHUNGEN
9 «Faut-il alors diriger ma pensée?!» Eugénie P. in der Maison de santé de Préfargier
9.1 Das Heft
9.2 Das Einzelblatt: Präsidentin der Atmosphäre
9.3 «Le calme, la confiance et la sérénité»: Maison de santé de Préfargier
9.4 Schluss
10 «Frau Anna Z., Schneiderin. Zur Zeit Anstalt Rheinau». Die Erzählung ihres Lebens, verfasst in der Pflegeanstalt Rheinau 1916
10.1 Lüge, Wahrheit, Fiktion
10.2 Psychopathie: Die gesellschaftliche Kontrollfunktion der Psychiatrie
10.3 Behandlung
10.4 Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Selbstgestaltung
11 «Rosenstrumpf und dornencknie». Hermann M., Patient der Pflegeanstalt Rheinau 1920–1943
11.1 Biografische Hinweise
11.2 Überblick über das Werk
11.3 Prosa: Die Pflegeanstalt als Selbstversorgerin
11.4 Dichtung
11.5 Zwei Gesprächsprotokolle
11.6 Ambivalenz
12 Register des Imaginären: Die Erfindungen des Patienten Heinrich B. in der Pflegeanstalt Rheinau 1914–1926
12.1 Welch hinreissende Gewalt: Maschinismus und Imagination
12.2 Biografische Hinweise und Überblick über das Werk
12.3 Eisenbahn
12.4 Flugschiffe
12.5 Haushalt und Industrie
12.6 Wasserkraft und eine Brücke über den Zürichsee
Zum Schluss: Die Frage nach dem Unterschied
«Die Frage, inwieweit der Blick von aussen im Schaffen von ‹Geisteskranken› aufscheint und sie diesen reflektieren, durchzieht die fesselnde Analyse wie ein roter Faden. Und stets schwingt das aktuelle Thema der Inklusion mit. Luchsingers Hauptbotschaft lautet: Ein Kunstwerk ist kein Krankheitssymptom, sondern eine kulturelle Leistung. Deshalb haben auch Psychischkranke ein Recht auf Urheberschaft.»
«Die vorliegende Untersuchung rekonstruiert für die Schweiz, welchen Diskursen ihre Werke eingeschrieben wurden und wie sie als Autorinnen und Autoren den Ort, an dem ihr Werk entstand, auf ästhetischer Ebene verhandeln. Das Zeitbild, in das sie aus ungewohnter Perspektive Einblick geben, ist ebenso kostbar wie selten.»
«Der zweite Band, um den es hier gehen soll, ist die bereits erwähnte, 2016 erschienene Dissertation von Luchsinger ‹Die Vergessenskurve. Werke aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz um 1900›. Dabei handelt es sich um eine grundlegende, ausgesprochen fundierte kulturanalytische Studie, die unter dem Leitbegriff der ‹Vergessenskurve› zentrale Fragen des weiten und schwierigen Forschungsfeldes Patientenkunst kritisch und umfassend diskutiert. Hier werden die heiklen Fragen nach Autorenschaft, Produktionsbedingungen und Resonanzraum ausführlich untersucht und die unterschiedlichen Standpunkte historisch verortet.»
«Bereits seit einigen Jahren gehören die im Chronos Verlag von Katrin Luchsinger mitherausgegebenen Bände zu historischen Werkbeständen aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz zu jenen Büchern, die neue Einblicke in das vielfältige künstlerische Schaffen von PatientInnen, die in diesen Institutionen interniert waren, eröffnet haben. [...] Im Zentrum von Luchsingers kulturwissenschaftlich ausgerichteter Studie steht die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen, nach den Entwicklungen und Diskursen, die dazu führten, dass um 1900 Werke von PatientInnen – seien es Zeichnungen, Skulpturen, Schriftstücke oder textile Arbeiten – eine über den Raum der Psychiatrie hinausreichende Aufmerksamkeit erfuhren und innerhalb der Psychiatrie gesammelt, beschrieben, ausgestellt sowie therapeutisch, wissenschaftlich und diagnostisch genutzt wurden. Luchsinger folgt dieser Frage aus drei unterschiedlichen Perspektiven und schließt ihr Buch mit vier monografischen Untersuchungen zu ausgewählten PatientInnen und ihren Werken. [...] Es wäre zu wünschen, dass Luchsingers Forschungen den Anstoß für entsprechende Projekte in anderen Ländern geben. Denn bislang, und das macht die Autorin mit ihrer bemerkenswerten Studie ebenfalls deutlich, ist nur ein Bruchteil dessen bekannt, was in den Archiven und Kliniken an Zeugnissen schlummert, die über die Sicht des Patienten, der Patientin einen vielschichtigen Blick nicht nur auf die Psychiatrie, sondern auf gesellschaftliche Fragen im Allgemeinen erlauben.»
«Die Studie geht […] in mehrerer Hinsicht weit über eine durchschnittliche Dissertation hinaus. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Luchsinger unter anderem Leiterin des Projekts ‹Bewahren besonderer Kulturgüter› war […]. Als umfassendste Publikation aus diesem Projekt, in die viele der Erträge Eingang gefunden haben, leistet die Studie also auch Pionierarbeit bei der Erschließung dieser Bestände für weitere Forschungen. […]
Insgesamt handelt es sich um die bisher umfassendste Arbeit zur ‹Irrenkunst›, […] eine innovative Studie, die ein faszinierendes Quellenmaterial zur Alltagsgeschichte psychiatrischer Anstalten erschließt. Dieses äußerst weite Spektrum an Themen, Perspektiven und Methoden macht die Studie zu einem reichen Beitrag insbesondere zur Psychiatrie- und Kunstgeschichte […].»