Literarische Schweiz
rox. Im Nachhinein muss man sagen: Es war eine genialische Fügung, dass sich das Bild der Schweiz um 18. Jahrhundert literarisch unter die Idee der Unversehrtheit hatte stellen lassen. Die Schweiz: ein zivilisationsfernes Alpenland, sittlich intakt und besiedelt von einfachen und beherzten Bergbewohnern, deren Sinne noch empfinden konnten und deren Gesit ein Hort der Freiheit war. Das ist in der Tat eine literarische Denkfigur, aber immerhin eine, die lange anhält: Noch bei Thomas Mann und sogar bei Walter Benjamin finden sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Lobreden auf die Schweiz als jenes «andere Deutschland», das nicht dem grossdeutschen Imperialismus anheimgefallen war und noch immer eine Art Nistplatz für eine bodenständige Antimoderne bot. Doch wie sehen die literarischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland wirklich aus, wenn die Klischees einmal beiseitegelassen werden? Ursula Amrein, Privatdozentin für neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich, hat genauer hingeschaut. Denn was man so schnell als «Schweizer Literatur» bezeichnen mag, hat just in den Jahren zwischen 1880 und 1950 ein ganz komplexes, alles andere als homogenes Erscheinungsbild. Zum einen ist die Schweiz durchaus nicht nur ein Hort der Antimoderne, des Weiteren gibt es grosse innerhelvetische Spannungen, die sich auch literarisch niederschlagen. Nach 1933 wird die Denkfigur einer «Schweizer» Literatur – angesichts der deutschen Exilliteratur und der Frage der politischen Zukunft der Schweiz – erst recht kontrovers. Der Band zeigt beispielhaft auf, wie unsinnig das plane Reden von einer «Nationalliteratur» ist, wenn das kulturelle und politische Gefüge instabil und die Literatur – eine vormals ästhetische Grösse – zur Mitarbeiterin der geistigen Landesverteidigung wird.
Publiziert mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung, 19./20. Januar 2008