Völkische Wurzeln
Eine Studie zur Schweizer Kulturpolitik der 1930er Jahre
Mit dem Aufruf «Los von Berlin!» forderten Deutschschweizer Autoren, Kritiker und Germanisten nach dem Ersten Weltkrieg die Nationalisierung von Literatur und Literaturbetrieb. Gerade dieses Streben nach Autonomie entsprach indes einem international aufkommenden völkischen Zeitgeist: Für die hiesigen Heimatkunstbewegten war das Berlin der Weimarer Republik Sinnbild für die verhasste Moderne. In der Folge wurde denn in der Schweiz der nationalsozialistische Terror gegen die «dekadenten Asphaltliteraten» zumeist begrüsst oder verharmlost. Die unter Bundesrat Philipp Etter als Trägerin einer Gegenideologie zum Nationalsozialismus geförderte Schweizer Nationalkultur zeigte ihrerseits eine deutliche, den Abgrenzungsbemühungen zuwiderlaufende Affinität zu nationalsozialistischen Ideologemen. So reklamierte der in frontistischen Kreisen verkehrende Dramatiker Max Eduard Liehburg die Urheberschaft an dem Terminus «Geistige Landesverteidigung» wohl nicht zu Unrecht für sich.
Mit ihrer Habilitationsschrift «ÐLos von Berlin!ð Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das ÐDritte Reichð» präsentiert die Zürcher Germanistin Ursula Amrein eine spannende Studie auf der Schnittstelle zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft. Die Autorin ordnet ihr umfangreiches, auch aus deutschen Archiven zusammengetragenes Material in drei Linien: Werden zunächst sehr umsichtig der Entstehungsprozess der 1938 gegründeten Kulturstiftung Pro Helvetia sowie das problematische Verhältnis einzelner Autoren zum «Dritten Reich» behandelt, befasst sich der folgende Teil mit dem Theaterwesen in der Schweiz der 1930er Jahre. An dieser Stelle kommen insbesondere einige von völkischem bis nationalsozialistischem Denken inspirierte Theaterprojekte zur Sprache, etwa das an der Landesausstellung 1939 aufgeführte «Eidgenössische Wettspiel».
Schliesslich wird die Geschichte des Zürcher Schauspielhauses ausgeleuchtet, vor allem die vom Schweizerischen Schriftstellerverein ab Herbst 1933 betriebene Kampagne gegen dieses politische Theater der Emigration. Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt das von einer biologistischen Rhetorik geprägte Engagement des Schriftstellers Jakob Bührer für eine «Verschweizerung» der - notabene privat geführten - Pfauenbühne. Vielleicht aber hätte Ursula Amrein dennoch auch Bührers Aversion gegenüber dem Frontismus, zum Ausdruck gebracht beispielsweise in seinem 1934 erschienenen Roman «Sturm über Stifflis», wenigstens in einer Fussnote erwähnen können. Eine weniger rigide Fixierung auf die damaligen Deutschschweizer Vorlieben fürs Völkische hätte das Bild der Schweizer Literatur- und Theaterlandschaft der 1930er Jahre zumindest nicht ganz so düster erscheinen lassen.
Den wissenschaftlichen Ertrag und die Relevanz von Amreins Buch kann und soll ein solcher Einwand freilich nicht relativieren: «Los von Berlin!» ist eine wichtige Ergänzung zu den in den vergangenen Jahren publizierten Arbeiten über das Verhältnis der Schweiz zum nationalsozialistischen Deutschland und über binnenschweizerische fremdenfeindliche Diskurse.
Gieri Cavelty
Ursula Amrein: «Los von Berlin!» Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das «Dritte Reich». Chronos-Verlag, Zürich 2004. 586 S., Fr. 68.-.
Publiziert mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Mittwoch, 23.03.2005 Nr.69 47
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