Politische Kommunikation
csc. Im August 1475, mitten in den Burgunderkriegen, trafen sich die eidgenössischen Gesandten in Bern zu einer Tagsatzung. In dem Tagsatzungsprotokoll, dem sogenannten Abschied, hielt der Berner Schreiber einen langen Katalog kriegsvorbereitender Massnahmen fest und schloss mit der Bemerkung, ein jeder Gesandte könne das Verschriftlichte seinen Obrigkeiten gegenüber dann noch genauer erläutern. Michael Jucker geht in seiner Dissertation zur politischen Kommunikation auf Tagsatzungen des Spätmittelalters solchem Ineinandergreifen von mündlicher Beratung und schriftlicher Aufzeichnung nach. Entschieden wendet er sich einleitend gegen die nachwirkende «Mythenbildung» des 19. Jahrhunderts, die namentlich durch die «Amtliche Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede» geprägt worden sei und in der Tagsatzung eine Regierungsbehörde und eine demokratische Vorform des modernen Parlaments gesucht habe. Jucker kritisiert die Edition der Abschiede ausführlich; insbesondere den ersten, 1245 einsetzenden Band hält er für eine wilde «Sammlung verschiedenster Dokumente zur schweizerischen Verfassungsgeschichte». Der Autor stützt sich daher auf archivalisches Schriftgut, wenn er nach den Rollen der Gesandten und Schreiber fragt, den Funktionen von Abschieden, Kredenzbriefen, Vollmachten, Instruktionen und Ratsprotokollen sowie nach deren Verschränkung mit mündlichen wie auch gestischen Formen der Kommunikation. Seine Befunde zum «medialen Wandel» werfen ein neues Licht auf die spätmittelalterliche Tagsatzung: Erst ab etwa 1390 sei «tagsatzungsrelevantes» Schriftgut und erst um 1450 die Form des Abschieds entstanden, die Abschiede seien eher «Pendenzenprotokolle» als verbindliche Beschlüsse und ihre steigende Zahl ab etwa 1470 kein Zeichen gezielter staatlicher Verdichtung, sondern Resultat einer konfliktgeladenen Lage, in der auch auswärtige Mächte mitredeten.
Michael Jucker: Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen im Spätmittelalter. Chronos-Verlag, Zürich 2004. 367 S., Fr. 58.-.
Publiziert mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 08.01.2005 Nr.6 48
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