Russischer Alltag

Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart

III. Band: Sowjetische Moderne und Umbruch

Gebunden
2005. 560 Seiten, 167 Abbildungen s/w., reich bebildert
ISBN 978-3-0340-0585-2
CHF 40.00 / EUR 36.00 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • Einblick
  • In den Medien

In drei Zeitbildern gibt der dritte Band einen Einblick in den russischen Alltag des 20. Jahrhunderts. Das siebente Zeitbild zeigt , wie die Aufbruchstimmung der frühen Sowjetjahre während des ersten Jahrzehnts der Stalinherrschaft (1929-1941) in den Wellen des Terrors unterging, der nicht nur die alten Parteikader tödlich traf, sondern mit der Zwangskollektivierung und «Entkulakisierung» der Landwirtschaft auch die Bauern. Das achte Zeitbild deckt den Zusammenhang von - scheinbar gesicherter - wirtschaftlicher Konsolidierung und gesellschaftlich-politischer Erstarrung auf, der die Zeit zwischen Chruschtschow und Gorbatschow (1964-1985) prägte. Immer deutlicher zeichnete sich der Potemkinsche Charakter einer «Fassadengesellschaft» ab, in der Schein und Sein, öffentliches und privates Leben wild divergierten. Das neunte Zeitbild skizziert in einem Epilog die alltagsgeschichtlichen Veränderungen nach dem Ende der Sowjetunion (1992-2000). Es gehört zu den beklemmenden Einsichten des Buches, dass trotz aller radikalen Auf- und Umbrüche im Verlauf eines Jahrhunderts so vieles beim alten blieb.

geboren 1937 in Hamburg, war von 1971 bis 2002 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Zu seinen Hauptwerken gehören eine dreibändige Geschichte des russischen Alltags (Zürich 2003–2005) und eine Strukturgeschichte Russlands (Paderborn 2010).


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Herausgeber/in der Reihe

Inhalt

Siebentes Zeitbild – Zwischen Aufbruchstimmung und Angst: Russischer Alltag im Schraubstock der frühen Stalinzeit (1929–1941)
Umbruch auf dem Lande
Das Ende des Mir: Kollektivierung, «Entkulakisierung» und Entkirchlichung als Mittel zur Durchsetzung der Sowjetmacht auf dem Dorfe
Zwischen Resignation und Verzweiflung
Das Dorfleben zu Beginn der dreissiger Jahre
Das Ende des Bauernhofes
Neuer Wein in alten Schläuchen – das Kolchosedorf
MTS und Sowchose – Vorposten sozialistischer Wohnwelten auf dem Lande?
Vom «besseren» und «froheren» Leben im kollektivierten Dorf
Kolchosebauern und Aussenwelt
Die neue Zeit aus der Sicht der kleinen Leute
Moloch Sowjetstaat
Wohnwelten
In «Rekonstruktion» – Stadtwelten
Die Schauseite der Staatsmacht
Die düstere Seite der Staatsmacht
Fern und feindlich – die Wahrnehmung der Aussenwelt durch die Stadtmenschen
Zwischen Überlebenskampf und der Suche nach dem kleinen Glück: Die «private» Lebenssphäre
Lebensentwürfe, Überlebensstrategien und Vorstellungswelten zwischen Neuformung, Anpassung, Abkoppelung und Widerstand
Zwei Gegenwelten
Rückblick auf das Werden einer Fassadengesellschaft

Achtes Zeitbild - Von der Hoffnung zur Enttäuschung: Sowjetrussischer Alltag zwischen Chruschtschow und Gorbatschow (1964–1985)
Der Niedergang der ländlichen Welt
Das Dorf zwischen «Perspektive» und «Perspektivlosigkeit»
Landschaftswandel und Umweltzerstörung
Städtischer Alltag zwischen «Chruschtschowka» und Plattenbau
Das Wohnumfeld im Wandel
Das familiäre Umfeld
Das berufliche Umfeld
Der öffentliche Raum
Macht und Gesellschaft: Der politische Raum
Rückblick auf eine Gesellschaft in der Sackgasse

Neuntes Zeitbild – Epilog: Überleben im Umbruch. Russischer Alltag 1992–2000
Ende und zaghafter Neubeginn – das flache Land
Kolchoseaktionäre und Farmer
Eine Reise übers Land
Zwischen Aufbruch und Sowjetnostalgie – das Leben in der Stadt
«Boomtown» und «Aschenbrödel»
«Neue Russen» und alte Mentalitäten
Am Abgrund
Briefe aus der nordrussischen Provinz (1995–2002)

Tausend Jahre Alltag im Rückblick: Kontinuität und Wandel


Pressestimmen

«Die Stärke der vorliegenden Darstellung liegt m.E. darin, dass es Goehrke gelingt, gerade die alltägliche Normalität der sowjetischen Bevölkerung zu zeigen. […] Darüber hinaus verdient die Darstellung besonders wegen ihrer quellennahen Eindringlichkeit ein besonderes Lob. Vor allem aber Goehrkes Rückgriff auf ausgefallene, überaus illustrative und z. T. noch nicht edierte zeitgenössische Schilderungen, Memoiren, Reise- und Augenzeugenberichte können gar nicht genug gewürdigt werden. […] Der Stil ist flüssig, die Darstellung klar, konzis und eingängig. Gerade für die Lehre dürfte sich diese Monographie als eine willkommene Bereicherung erweisen, zumal am Ende aller drei Vignetten Quellentexte abgedruckt sind, welche die Ausführungen pointiert ergänzen.» Jahrbücher für Geschichte Osteuropas


«vorzüglich ausgestattet […] ein Opus magnum aus einem Guss und einer Hand.» Die Zeit


«Das buch will sich auch an Leser richten, die keine Fachhistoriker sind, und es tut dies mit einer klaren und gut verständlichen Sprache.» NZZ am Sonntag


«Zu den im Westen am meisten zitierten Aussagen gehören die Worte des russischen Schriftstellers Fjodor Tjutschew: ‹Russland ist mit dem Verstand nicht zu verstehen. An Russland kann man nur glauben.› Goehrkes gut gegliedertes, materialreiches und leicht lesbares Werk zeigt, dass man Russland sehr wohl verstehen kann.» Tages Anzeiger


Die Forschungsleistung Carsten Goehrkes «ragt deutlich aus der Forschungslandschaft hervor und wird auf Jahre ein wichtiges Referenzwerk bleiben. Vor allem für die Lehre ist es fortan unverzichtbar. Zudem bleibt zu hoffen, dass das Werk dank seiner illustrativen Aufmachung und seiner guten Lesbarkeit auch den Weg in manche Privatbibliothek finden wird.» H-Soz-u-Kult


«Goehrkes Russischer Alltag ist ein anspruchsvolles und einzigartiges Werk, das vollständig überzeugt.» DAMALS


«Carsten Goehrke hat auf insgesamt gut 1200 Seiten Text – vorbildlich ergänzt durch Illustrationen, Fach- und Stichwortverzeichnisse sowie Literaturangaben – ein reichhaltiges Tableau erarbeitet, zu dem auch prägnante Quellentexte gehören.» Der Bund


Besprechungen

Das historische Buch

Das Spektakuläre des Alltäglichen

Carsten Goehrkes Geschichte des russischen Alltags

Der Zürcher Osteuropahistoriker Carsten Goehrke bricht in seiner breit angelegten Darstellung des russischen Alltags gleich mit zwei Dogmen der traditionellen Geschichtsschreibung. Zum einen verzichtet er weitgehend auf eine chronologische Ordnung und präsentiert seinen Stoff in «Zeitfenstern»: Goehrke macht eine Reihe von Momentaufnahmen und verwandelt so den Lauf der Geschichte in einen Wechsel von Zeitraffung und Zeitlupe. Zum anderen lenkt er den Blick auch auf bisher vernachlässigte Räume der russischen Geschichte. Seine Erzählung spielt sich nicht in den Regierungspalästen ab, sondern in Krankenhäusern, Kasernen, Bauernstuben und Privatwohnungen. Diese doppelte Neuausrichtung ermöglicht eine ganz neue Sicht auf die Vielfalt russischer Lebenswelten. Goehrke hat den Bogen weit gespannt: In den ersten beiden Bänden seines Werks wurde der russische Alltag auf dem Land und in der Stadt in sechs «Zeitbildern» vom 9. Jahrhundert bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs dargestellt (NZZ 31. 1. 04). Der dritte und letzte Band präsentiert in zwei ausführlichen Kapiteln die frühe Stalinzeit und die sogenannte «Stagnation» unter Breschnew. Das Überblickswerk endet mit einer etwas zu kurz und wahrscheinlich auch zu düster geratenen Schilderung des russischen Alltags nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums.

Der Stalinismus und die Zeit danach

Der Stalinismus darf als die von der historischen Forschung am besten dokumentierte Epoche der russischen Geschichte gelten. Goehrke kann in seiner Darstellung von Kollektivierung und Terror auf zahlreiche Vorarbeiten zurückgreifen, in denen die stalinistische Alltagskultur analysiert wurde. Der Autor bietet erstmals eine Gesamtschau der einzelnen Aspekte: Er verbindet die prekäre Wohnsituation der Menschen, die oft mit ihrer Familie nur ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung («kommunalka») bewohnen konnten, mit den Sexualpraktiken der dreissiger Jahre. Ausserdem bezieht er die Umgestaltung des öffentlichen Raums auf die sogenannte Kultiviertheitskampagne, in deren Rahmen die Sowjetbürger zu Sauberkeit und Ordnung erzogen werden sollten. Schliesslich weist er in einem erschütternden Kapitel auf «Stalins jüngste Opfer» hin, nämlich die obdachlosen Strassenkinder, deren Eltern im Gulag verschwunden waren. Ihr nacktes Überleben sicherten sich diese Jugendbanden durch Überfälle oder Prostitution.
In den siebziger Jahren lässt sich eine gewisse Konsolidierung der Sowjetgesellschaft beobachten: Die Zeit der grossen ideologischen Kämpfe war vorbei, der gerontokratischen Führung ging es im Wesentlichen um die Sicherung der eigenen Herrschaft. Die Bevölkerung wurde mit bescheidenen Konsumangeboten geködert; gleichwohl prägten lange Schlangen vor den Geschäften das sowjetische Alltagsbild. Goehrke kontrastiert den Aufbau privater Netzwerke, die mit der Zeit ein eigenes Distributionssystem bildeten, mit der privilegierten Versorgung der Nomenklatura, die über eigene Läden, Schulen, Krankenhäuser und selbstverständlich auch Feriensiedlungen verfügte. Die Darstellung mündet in eine Charakteristik des «Homo sovieticus», der sich als soziokultureller Typus im Russland des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Allerdings weicht Goehrke der Gefahr simplifizierender Kurzschlüsse aus und verweist auf die Kontinuität traditioneller bäuerlicher Verhaltensmuster, die bereits in der Zarenzeit eine starke soziale Kontrolle einschlossen.

Die Gegenwart

Die «Zeitbilder» des dritten Bandes weisen unterschiedliche Längen auf: Dem Stalinismus werden dreihundert Seiten gewidmet, der Breschnew-Ära immer noch hundert, während die postsowjetische Zeit dem Autor gerade einmal vierzig Seiten wert ist. Gerade die jüngste Vergangenheit bietet aber ein spannendes historisches Untersuchungsfeld: Das Jahr 1991 sollte im Rahmen einer Überblicksdarstellung nicht nur als Einschnitt, sondern auch als Übergang gedeutet werden. Der Bankrott der kommunistischen Ideologie und die Umstellung der administrativen Kommandowirtschaft auf einen Raubtierkapitalismus gehen Hand in Hand mit der Kontinuität eines patriarchalen Staates, der immer noch den Primat der Politik vor der Wirtschaft vertritt.
Auf der Mikroebene der individuellen Lebenswelt vermischt sich dabei Sowjetnostalgie mit der Erwartung eines besseren Lebens in einer offenen Gesellschaft. Dabei sollte man aber die retardierenden Tendenzen nicht über Gebühr betonen. Goehrkes Einschätzung, dass die ästhetischen Anschauungen der Russen sich seit dem Mittelalter kaum gewandelt hätten oder dass Werte wie Menschenwürde und Toleranz in der russischen Geschichte fehlten, ist wahrscheinlich zu einseitig. Russland verfügt über ein enormes kulturelles Potenzial, das sich in der Vergangenheit gerade abseits der staatlichen Selbstinszenierung immer wieder deutlich manifestiert hat. Zu erinnern ist dabei etwa an die Romane von Dostojewski, Tolstoi oder Turgenjew, an die künstlerische Avantgarde der 1920er Jahre und an die führende Rolle des russischen Films, der im 20. Jahrhundert immer wieder ästhetische Massstäbe gesetzt hat. Russland ist immer auch ein Laboratorium der Geschichte gewesen - und es ist Carsten Goehrkes Verdienst, das Spektakuläre des Alltags eines frühzeitlichen Reiternomaden, eines mittelalterlichen Bauern oder eines modernen Fabrikarbeiters nachgezeichnet zu haben.

Ulrich M. Schmid

Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Band 3: Sowjetische Moderne und Umbruch. Chronos-Verlag, Zürich 2005. 554 S., Fr. 60.-.

Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Mittwoch, 28.12.2005 Nr.303 42
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der neuen Zürcher Zeitung
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