Russischer Alltag

Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart

I. Band: Die Vormoderne

Gebunden
2003. 471 Seiten, 113 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0583-8
CHF 40.00 / EUR 36.00 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • Einblick
  • In den Medien

In drei Bänden öffnet Carsten Goehrke neun Zeitfenster in die Vergangenheit, die es erlauben, charakteristische Veränderungen des täglichen Lebens zu registrieren. Innerhalb eines jeden Zeitbildes rekonstruiert der Autor den Alltag, die Lebenswelt eines Individuums in konzentrischen Kreisen von innen nach aussen: zunächst das häusliche Umfeld, dann den Hof, die Siedlung und schliesslich die Region in ihren jeweils konkreten Ausprägungen, aber auch in ihren sozialen Vernetzungen. Dies ermöglicht dem Leser, sich den Lebens- und Vorstellungswelten der Angehörigen einer bestimmten Schicht oder Gruppe aus deren eigener Perspektive zu nähern. Da sich die Gesellschaft im Verlauf der historischen Entwicklung zunehmend ausdifferenziert hat, wächst von Epoche zu Epoche auch der Umfang der Zeitbilder.
Carsten Goehrke betrachtet bei seinen Untersuchungen zwei Ebenen. Zum einen rekonstruiert er vergangene Lebenswelten mit ihren Grundkonstanten des menschlichen Daseins wie Existenzsicherung, Wohnen, Essen und Trinken, Sexualität und soziale Beziehungen. Zum andern zeigt er die Vorstellungswelten, also die Normen und Werte, die Welt- und Lebensdeutungen, in welche die Menschen einer bestimmten Epoche und Gesellschaftsschicht hineingewachsen sind.
Eine umfassende Geschichte des russischen Alltags mit dieser Konzeption gibt es bisher nicht. Die neun Zeitbilder bieten mehr als eine reine Alltagsgeschichte. Da sie in die politische und sozialökonomische Entwicklung eingebettet sind, ermöglichen sie es den Leserinnen und Lesern, die Geschichte Russlands «von unten» mitzuverfolgen und damit auch die Ausprägung einer kollektiven Mentalität, die bis heute vom Überleben unter den Bedingungen eines allmächtigen Staates gezeichnet ist. Die Darstellung wendet sich sowohl an eine fachlich gebildete Leserschaft als auch an ein breiteres Publikum.

geboren 1937 in Hamburg, war von 1971 bis 2002 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Zu seinen Hauptwerken gehören eine dreibändige Geschichte des russischen Alltags (Zürich 2003–2005) und eine Strukturgeschichte Russlands (Paderborn 2010).


Bücher im Chronos Verlag


Aufsätze im Chronos Verlag


Herausgeber/in der Reihe

Inhalt

Erstes Zeitbild – Ein Flickenteppich verstreuter Kleinwelten:
Ostslawischer Alltag im 9. Jahrhundert
Lebenswelten
Ein Leben in Erdhütten
Befestigte Siedlungen und Kleindörfer
Ein Leben für sich - Siedlungskammer und Lokalgesellschaft
Kaum miteinander verbunden - Lokalgesellschaft und Aussenwelt
Selbstversorgung als Wirtschaftsprinzip
Vorstellungswelten und Gemeinschaftsrituale
Die Beschwörung heil- und unheilbringender Kräfte
Die traditionale Kultur als gemeinschaftsstiftende Praxis
Rückblick: Die kleinräumige Welt des Alltags

Zweites Zeitbild – Kleindörfer und Burgstädte als Lebenswelten des Kiewer Reiches im 12. und frühen 13. Jahrhundert
Alltag auf dem Lande
Dunkel, eng und rauchig - die häusliche Umgebung
Festung im kleinen; Das Stadtgehöft
Burg und Posad: Eine Stadtlandschaft aus Holz
Die Stadt in der Wahrnehmung ihrer Menschen
Die städtische Gesellschaft: Struktur und Organisation
Was es zum Lebensunterhalt braucht
Das innerste Beziehungsgeflecht des Stadtmenschen: Bindungen, Freundschaft, Liebe
Lebensrhythmus, Wertnormen, Vorstellungswelten
Auf dem Lande
Am Fürstenhof
In der Stadt
Rückblick auf eine noch wenig segmentierte Alltagswelt

Drittes Zeitbild – Streusiedlung und Posad als Lebenswelten der Rus im 15. Jahrhundert
Alltag auf dem Lande
Isba und Dwor
Das Umfeld von Haus und Hof im Wandel
Agrarwirtschaftlicher Wandel?
Krestjanin = Christ? Die bäuerliche Vorstellungswelt im Umbruch
Alltag in der Stadt
Immer noch hinter Palisaden: Wohnhaus und Gehöft
Hölzernes Gewand mit Steintupfern: Das Erscheinungsbild der Stadt
Beziehungsverdichtung: Stadt und Umland
Städtische Lebenswelten
Wandlungen der familiären Lebenswelt?
Individuum und Gesellschaft, Zeit- und Lebenshorizonte
Blick zurück auf eine derbe, offene Welt

Viertes Zeitbild – Im Schatten autokratischer Allmacht: Moskowitischer Alltag in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
Alltag auf dem Lande
Die Anfänge des Bauerngehöfts
Die Siedlungslandschaft im Wandel
Bauern und Machthaber
Zwischen Tradition und neuen Zwängen: Das Wirtschaftsgebaren der Bauern
Die Zerfaserung der ländlichen Gesellschaft
Die Instrumentalisierung des Mir
Wetnormen, Vorstellungswelten und Zusammenleben
Alltag in der Stadt
Immer noch Holz in Holz: Das Erscheinungsbild der Stadt
Staat und Stadt
Prunk und Derbheit
Zwischen Kabak und Kirche: Die Welten des einfachen Stadvolkes
Mann, Frau, Kind und Familie
Rückblick: Moskowitischer Alltag im «aufrührerischen Jahrhundert»


Pressestimmen

«Der gut lesbare Stil, die vielen Abbildungen, die Quellenauszüge und der umfangreiche Apparat lassen dieses im wahrsten Sinne des Wortes gewichtige Werk vor allem als unverzichtbar für die Lehre erscheinen.»
Beate Fieseler, Archiv für Sozialgeschichte


Besprechungen

Herrschaft und Alltag

Russische Geschichte in neuen Darstellungen

Von Ulrich M. Schmid

Wer ist das Subjekt der russischen Geschichte? An dieser Frage erhitzen sich die Gemüter seit dem frühen 19. Jahrhundert. Der Vater der russischen Historiographie, Nikolai Karamzin (1766 bis 1826), legte nach über zwanzigjähriger Arbeit eine monumentale «Geschichte des russischen Staates» vor, deren programmatische Ausrichtung auf die Beschreibung offizieller Strukturen bereits im Titel anklingt. Karamzin hielt im Vorwort zu seinem vielbändigen Werk knapp und bündig fest: «Die Geschichte des russischen Volkes gehört dem Zaren.» Karamzin vertrat eine durchaus hegelianische Position: Der russische Staat erschien ihm als gültige Erscheinung eines vernünftigen Geschichtsverlaufs. Angesichts der repressiven Autokratie und der allgemeinen Misere der Bauern mochten sich jedoch vor allem nichtadlige Kreise mit Karamzins Geschichtsoptimismus nicht einverstanden erklären. 1829 veröffentlichte der Journalist Nikolai Polevoj (1796-1846) eine «Geschichte des russischen Volkes», in der die zaristische Herrschaft gerade nicht im Vordergrund des Erkenntnisinteresses stehen sollte.
Der Gegensatz von politischer Ereignisgeschichte und Kulturgeschichte blieb in historiographischen Darstellungen lange Zeit ungelöst. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts zog man aus der wechselseitigen Bedingtheit von individuellen Lebenswelten und historischen Strukturen die methodischen Konsequenzen - neuere Darstellungen der Geschichte Russlands begnügen sich nicht mit gesellschaftspolitischen Abstraktionen, sondern rücken den einzelnen Menschen als prominentestes Subjekt der Geschichte in den Blick.

DAS EXEMPLARISCHE IM BESONDEREN

Heiko Haumanns massgebliche «Geschichte Russlands» aus dem Jahr 1996 liegt seit kurzem auch in einer broschierten Ausgabe vor. Gegenüber der ersten Auflage hat der Basler Osteuropahistoriker die lebensweltliche Perspektive verstärkt - hinzugekommen sind etwa Kapitel über das Phänomen der Gottesnarren, über die kulturelle Konfrontation der Tschuktschen im hohen Norden mit den Vertretern der Sowjetmacht und über das tragische Schicksal eines Rückkehrers aus der Emigration während des Stalin'schen Terrors. Es gelingt Haumann, das Exemplarische im Besonderen aufzudecken: Gesellschaftliche, politische, ökonomische, konfessionelle und nationale Aspekte der russischen Geschichte verbinden sich zu einer übergreifenden Darstellung, in der das Gegenwärtige als Gewordenes erkennbar wird. (Das Buch hätte allerdings etwas mehr verlegerische Sorgfalt verdient: Auf S. 157 ist eine Abbildung vergessen gegangen, und im Inhaltsverzeichnis fehlen einige Seitenzahlen.)
Noch nachhaltiger als Haumann konzentriert sich Carsten Goehrke in seinem dreibändigen Werk «Russischer Alltag» auf die individuellen Lebenswelten. Der Zürcher Emeritus verzichtet weitgehend auf die Darstellung diachroner Entwicklungen und zeigt neun Querschnitte aus der russischen Geschichte. Diese «Zeitfenster» - wie Goehrke sie nennt - öffnen den Blick auf die konkreten Lebensumstände verschiedener historischer Akteure. So präsentiert Goehrke etwa den Alltag auf einem russischen Adelsgut im 18. Jahrhundert aus der Sicht sowohl des Besitzers als auch des leibeigenen Bauern. Ähnliches gilt für die Darstellung der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Die vergangene Epoche gewinnt anschauliche Züge, wenn Goehrke den russigen Arbeitsplatz in einer Fabrik, die schwüle Enge eines Bordells oder die soignierte Eleganz des reichen Grossbürgertums skizziert.
Goehrke stützt sich auf zahlreiche, wenig bekannte Quellen und illustriert seine Schilderung mit wertvollem Bildmaterial. Für die schlecht dokumentierte Vormoderne hat Goehrke einen mutigen Ansatz gewählt: Er rundet seine Momentaufnahmen mit einem fiktiven Text ab, der eine konkrete Szene aus dem russischen Alltag zeigt. Ein solches Vorgehen ist nicht nur legitim, sondern auch methodisch aufschlussreich: Es zeigt, dass Geschichte letztlich immer nur in einer subjektiven Erzählung wiedergegeben werden kann: Die Forderung Leopold von Rankes, die Geschichtsschreibung müsse zeigen, «wie es eigentlich gewesen», erweist sich ein weiteres Mal als Illusion. Goehrkes Text bietet eine angenehme Lektüre, allerdings zieht der Verfasser bisweilen ein allzu saloppes Stilregister («die Bude einrennen», «ein Haus hinklotzen», «der Staat dopt seine Untertanen», «Bonzokratie»).

UNKRITISCH

Wer nur einen kurzen Überblick sucht, kann zu Hans-Heinrich Noltes «Kleiner Geschichte Russlands» greifen. Auch Nolte ergänzt die grossen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungslinien durch individuelle Biogramme. Allerdings vertraut Nolte hier seinen Quellen bisweilen allzu unkritisch: Wohl aus Gründen der politischen Korrektheit wählt er Anastasja Markowna, die Frau des Protopopen Awwakum, als Beispiel für eine weibliche Existenz im 17. Jahrhundert. Awwakum war der prominenteste Führer der Altgläubigen und hat eine bemerkenswerte Autobiografie hinterlassen, in der er seine Frau jedoch nur en passant erwähnt. Noltes Biogramm beschäftigt sich denn auch hauptsächlich mit Awwakum und kann kaum Wesentliches über Anastasja Markowna aussagen.
Auch für die Sowjetzeit greift Nolte eine Politikerin heraus, die er in einem allzu rosigen Licht zeigt: Die langjährige Kulturministerin Jekaterina Furzewa war keineswegs eine «wohlunterrichtete Persönlichkeit», sondern zeichnete sich vor allem durch einen ausgeprägten Machtinstinkt und ein reaktionäres Kunstverständnis aus. Nolte führt seine Darstellung bis in die jüngste Vergangenheit, verklärt aber Wladimir Putin zur Lichtgestalt demokratischer und rechtsstaatlicher Reformen. Gerade am Ende eines weit ausgreifenden Überblicks über die Geschichte Russlands hätte sich hier die Chance geboten, das Phänomen Putin kritisch zu analysieren. So aber wird Putin als der «rechte Mann» präsentiert, der die richtigen Rezepte für die zahlreichen Krankheiten seines Landes kennt und ihm die nötigen Kuren verschreibt.

Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bände. Chronos-Verlag, Zürich 2003. Bd. 1: Die Vormoderne, 472 S. - Bd. 2: Auf dem Weg in die Moderne, 548 S.; je Fr. 60.-.
Heiko Haumann: Geschichte Russlands. Chronos-Verlag, Zürich 2003. 568 S., Fr. 48.-.
Hans-Heinrich Nolte: Kleine Geschichte Russlands. Reclam- Verlag, Stuttgart 2003. 544 S., Fr. 33.60.

Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 31.01.2004 Nr.25 62
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Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung