Russischer Alltag

Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart

II. Band: Auf dem Weg in die Moderne

Gebunden
2003. 547 Seiten, 159 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0584-5
CHF 40.00 / EUR 36.00 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • Einblick
  • In den Medien

In drei Bänden öffnet Carsten Goehrke neun Zeitfenster in die Vergangenheit, die es erlauben, charakteristische Veränderungen des täglichen Lebens zu registrieren. Innerhalb eines jeden Zeitbildes rekonstruiert der Autor den Alltag, die Lebenswelt eines Individuums in konzentrischen Kreisen von innen nach aussen: zunächst das häusliche Umfeld, dann den Hof, die Siedlung und schliesslich die Region in ihren jeweils konkreten Ausprägungen, aber auch in ihren sozialen Vernetzungen. Dies ermöglicht dem Leser, sich den Lebens- und Vorstellungswelten der Angehörigen einer bestimmten Schicht oder Gruppe aus deren eigener Perspektive zu nähern. Da sich die Gesellschaft im Verlauf der historischen Entwicklung zunehmend ausdifferenziert hat, wächst von Epoche zu Epoche auch der Umfang der Zeitbilder.

Carsten Goehrke betrachtet bei seinen Untersuchungen zwei Ebenen. Zum einen rekonstruiert er vergangene Lebenswelten mit ihren Grundkonstanten des menschlichen Daseins wie Existenzsicherung, Wohnen, Essen und Trinken, Sexualität und soziale Beziehungen. Zum andern zeigt er die Vorstellungswelten, also die Normen und Werte, die Welt- und Lebensdeutungen, in welche die Menschen einer bestimmten Epoche und Gesellschaftsschicht hineingewachsen sind.

Der zweite Band der Trilogie skizziert das russische Alltagsleben im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und zwischen 1880 und 1914. Nie in der Geschichte Russlands waren die Unterschiede der Lebens- und Vorstellungswelten zwischen Stadt und Land, «oben» und «unten» grösser als in diesem Zeitraum, weil die von Peter dem Grossen eingeleitete «Verwestlichung» Russlands nach und nach zwar den Lebensstil der Elite veränderte, die Landbevölkerung und die städtischen Unterschichten jedoch erst mit der Industrialisierung zu erreichen begann.

geboren 1937 in Hamburg, war von 1971 bis 2002 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Zu seinen Hauptwerken gehören eine dreibändige Geschichte des russischen Alltags (Zürich 2003–2005) und eine Strukturgeschichte Russlands (Paderborn 2010).


Bücher im Chronos Verlag


Aufsätze im Chronos Verlag


Herausgeber/in der Reihe

Inhalt

Fünftes Zeitbild – Die gespaltene Gesellschaft: Russischer Alltag unter der Herrschaft Kaiserin Katharinas II. (1762–1796)
Die ländliche Welt als Gefäss traditionalen Lebens in einer sich wandelnden Umgebung
Das häusliche Umfeld
«Hoflandschaften»
Das Strassendorf
Die bäuerlichen Lebenswelten
Wirtschaftsalltag
Zum Lebensstandard: Verelendung des leibeigenen Bauerntums?
Leibeigenschaft und Mentalität
Eine neue Spezies: Die Fabrikbauern
Die städtische Welt als Schaubühne des Neuen
Die Wandlungen des äusseren Erscheinungsbildes
Lebenswelten der Stadtgesellschaft
Freuden und Leiden des Alltags
Der Adel – Brückenkopf der abendländischen Kultur?
Bevölkerungsanteil, Schichtung und Struktur
Landsitz und Stadthaus
Zwischen Kartenspiel und Buchlektüre: Die Spannweite adliger Lebensart
Vorstellungswelten und Selbstbild des Adels
Zur Kaste erstarrt: Die Geistlichkeit
Der Staat als Priestermacher
Fjodor Karpinksi – der Alltag eines Stadtpriesters
Zwischen Tisch und Bank
Rückblick: Gespaltene Gesellschaft – getrennte Lebens- und Vorstellungswelten?

Sechstes Zeitbild – Gespaltene Gesellschaft und Modernisierung: Russische Alltagswelten 1880 bis 1914
Die ländliche Welt zwischen Wandel und Beharrung
Das häusliche Umfeld
Dorf und Dorfgemeinschaft: Der Mir in der Modernisierungsfalle?
Zwischen Defensive und Offensive: Mir und Aussenwelt
Die Welt aus der Sicht der «kleinen Leute»
Moloch Stadt
Nicht Stadt, nicht Dorf – die Industriesiedlung
Die Ungleichmässigkeit der Modernisierung in den Städten
«Laboratorium der Moderne» und Vorhof der Hölle - die Hauptstadt St. Petersburg
Moskau – konservierte Tradition und wirtschaftlicher Aufbruch
Beschaulichkeit und Tradition – Alltag in der Provinzstadt
Alltag im Rückblick: Tradition und Moderne als Prozess fortschreitender Überlappung


Pressestimmen

«vorzüglich ausgestattet […] ein Opus magnum aus einem Guss und einer Hand.»
Die Zeit


«Das Buch will sich auch an Leser richten, die keine Fachhistoriker sind, und es tut dies mit einer klaren und gut verständlichen Sprache.»
NZZ am Sonntag


«Zu den im Westen am meisten zitierten Aussagen gehören die Worte des russischen Schriftstellers Fjodor Tjutschew: «Russland ist mit dem Verstand nicht zu verstehen. An Russland kann man nur glauben.» Goehrkes gut gegliedertes, materialreiches und leicht lesbares Werk zeigt, dass man Russland sehr wohl verstehen kann.»
Tages-Anzeiger


Die Forschungsleistung Carsten Goehrkes «ragt deutlich aus der Forschungslandschaft hervor und wird auf Jahre ein wichtiges Referenzwerk bleiben. Vor allem für die Lehre ist es fortan unverzichtbar. Zudem bleibt zu hoffen, dass das Werk dank seiner illustrativen Aufmachung und seiner guten Lesbarkeit auch den Weg in manche Privatbibliothek finden wird.»
H-Soz-u-Kult


«Goehrkes Russischer Alltag ist ein anspruchsvolles und einzigartiges Werk, das vollständig überzeugt.»
DAMALS


«Carsten Goehrke hat auf insgesamt gut 1200 Seiten Text - vorbildlich ergänzt durch Illustrationen, Fach- und Stichwortverzeichnisse sowie Literaturangaben - ein reichhaltiges Tableau erarbeitet, zu dem auch prägnante Quellentexte gehören.»
Der Bund


Besprechungen

Herrschaft und Alltag

Russische Geschichte in neuen Darstellungen

Von Ulrich M. Schmid

Wer ist das Subjekt der russischen Geschichte? An dieser Frage erhitzen sich die Gemüter seit dem frühen 19. Jahrhundert. Der Vater der russischen Historiographie, Nikolai Karamzin (1766 bis 1826), legte nach über zwanzigjähriger Arbeit eine monumentale «Geschichte des russischen Staates» vor, deren programmatische Ausrichtung auf die Beschreibung offizieller Strukturen bereits im Titel anklingt. Karamzin hielt im Vorwort zu seinem vielbändigen Werk knapp und bündig fest: «Die Geschichte des russischen Volkes gehört dem Zaren.» Karamzin vertrat eine durchaus hegelianische Position: Der russische Staat erschien ihm als gültige Erscheinung eines vernünftigen Geschichtsverlaufs. Angesichts der repressiven Autokratie und der allgemeinen Misere der Bauern mochten sich jedoch vor allem nichtadlige Kreise mit Karamzins Geschichtsoptimismus nicht einverstanden erklären. 1829 veröffentlichte der Journalist Nikolai Polevoj (1796-1846) eine «Geschichte des russischen Volkes», in der die zaristische Herrschaft gerade nicht im Vordergrund des Erkenntnisinteresses stehen sollte.
Der Gegensatz von politischer Ereignisgeschichte und Kulturgeschichte blieb in historiographischen Darstellungen lange Zeit ungelöst. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts zog man aus der wechselseitigen Bedingtheit von individuellen Lebenswelten und historischen Strukturen die methodischen Konsequenzen - neuere Darstellungen der Geschichte Russlands begnügen sich nicht mit gesellschaftspolitischen Abstraktionen, sondern rücken den einzelnen Menschen als prominentestes Subjekt der Geschichte in den Blick.

DAS EXEMPLARISCHE IM BESONDEREN

Heiko Haumanns massgebliche «Geschichte Russlands» aus dem Jahr 1996 liegt seit kurzem auch in einer broschierten Ausgabe vor. Gegenüber der ersten Auflage hat der Basler Osteuropahistoriker die lebensweltliche Perspektive verstärkt - hinzugekommen sind etwa Kapitel über das Phänomen der Gottesnarren, über die kulturelle Konfrontation der Tschuktschen im hohen Norden mit den Vertretern der Sowjetmacht und über das tragische Schicksal eines Rückkehrers aus der Emigration während des Stalin'schen Terrors. Es gelingt Haumann, das Exemplarische im Besonderen aufzudecken: Gesellschaftliche, politische, ökonomische, konfessionelle und nationale Aspekte der russischen Geschichte verbinden sich zu einer übergreifenden Darstellung, in der das Gegenwärtige als Gewordenes erkennbar wird. (Das Buch hätte allerdings etwas mehr verlegerische Sorgfalt verdient: Auf S. 157 ist eine Abbildung vergessen gegangen, und im Inhaltsverzeichnis fehlen einige Seitenzahlen.)
Noch nachhaltiger als Haumann konzentriert sich Carsten Goehrke in seinem dreibändigen Werk «Russischer Alltag» auf die individuellen Lebenswelten. Der Zürcher Emeritus verzichtet weitgehend auf die Darstellung diachroner Entwicklungen und zeigt neun Querschnitte aus der russischen Geschichte. Diese «Zeitfenster» - wie Goehrke sie nennt - öffnen den Blick auf die konkreten Lebensumstände verschiedener historischer Akteure. So präsentiert Goehrke etwa den Alltag auf einem russischen Adelsgut im 18. Jahrhundert aus der Sicht sowohl des Besitzers als auch des leibeigenen Bauern. Ähnliches gilt für die Darstellung der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Die vergangene Epoche gewinnt anschauliche Züge, wenn Goehrke den russigen Arbeitsplatz in einer Fabrik, die schwüle Enge eines Bordells oder die soignierte Eleganz des reichen Grossbürgertums skizziert.
Goehrke stützt sich auf zahlreiche, wenig bekannte Quellen und illustriert seine Schilderung mit wertvollem Bildmaterial. Für die schlecht dokumentierte Vormoderne hat Goehrke einen mutigen Ansatz gewählt: Er rundet seine Momentaufnahmen mit einem fiktiven Text ab, der eine konkrete Szene aus dem russischen Alltag zeigt. Ein solches Vorgehen ist nicht nur legitim, sondern auch methodisch aufschlussreich: Es zeigt, dass Geschichte letztlich immer nur in einer subjektiven Erzählung wiedergegeben werden kann: Die Forderung Leopold von Rankes, die Geschichtsschreibung müsse zeigen, «wie es eigentlich gewesen», erweist sich ein weiteres Mal als Illusion. Goehrkes Text bietet eine angenehme Lektüre, allerdings zieht der Verfasser bisweilen ein allzu saloppes Stilregister («die Bude einrennen», «ein Haus hinklotzen», «der Staat dopt seine Untertanen», «Bonzokratie»).

UNKRITISCH

Wer nur einen kurzen Überblick sucht, kann zu Hans-Heinrich Noltes «Kleiner Geschichte Russlands» greifen. Auch Nolte ergänzt die grossen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungslinien durch individuelle Biogramme. Allerdings vertraut Nolte hier seinen Quellen bisweilen allzu unkritisch: Wohl aus Gründen der politischen Korrektheit wählt er Anastasja Markowna, die Frau des Protopopen Awwakum, als Beispiel für eine weibliche Existenz im 17. Jahrhundert. Awwakum war der prominenteste Führer der Altgläubigen und hat eine bemerkenswerte Autobiografie hinterlassen, in der er seine Frau jedoch nur en passant erwähnt. Noltes Biogramm beschäftigt sich denn auch hauptsächlich mit Awwakum und kann kaum Wesentliches über Anastasja Markowna aussagen.
Auch für die Sowjetzeit greift Nolte eine Politikerin heraus, die er in einem allzu rosigen Licht zeigt: Die langjährige Kulturministerin Jekaterina Furzewa war keineswegs eine «wohlunterrichtete Persönlichkeit», sondern zeichnete sich vor allem durch einen ausgeprägten Machtinstinkt und ein reaktionäres Kunstverständnis aus. Nolte führt seine Darstellung bis in die jüngste Vergangenheit, verklärt aber Wladimir Putin zur Lichtgestalt demokratischer und rechtsstaatlicher Reformen. Gerade am Ende eines weit ausgreifenden Überblicks über die Geschichte Russlands hätte sich hier die Chance geboten, das Phänomen Putin kritisch zu analysieren. So aber wird Putin als der «rechte Mann» präsentiert, der die richtigen Rezepte für die zahlreichen Krankheiten seines Landes kennt und ihm die nötigen Kuren verschreibt.

Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bände. Chronos-Verlag, Zürich 2003. Bd. 1: Die Vormoderne, 472 S. - Bd. 2: Auf dem Weg in die Moderne, 548 S.; je Fr. 60.-.
Heiko Haumann: Geschichte Russlands. Chronos-Verlag, Zürich 2003. 568 S., Fr. 48.-.
Hans-Heinrich Nolte: Kleine Geschichte Russlands. Reclam- Verlag, Stuttgart 2003. 544 S., Fr. 33.60.

Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 31.01.2004 Nr.25 62
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Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung