Mit den Debatten über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg erhielt Mitte der 1990er-Jahre auch die lange vernachlässigte schweizerische Antisemitismusforschung neue Impulse. Vermehrt wurden Anstrengungen unternommen, den Antisemitismus schweizerischer Machart zu analysieren und dessen Ausprägungen im internationalen Vergleich zu verorten. Mittlerweile enthält auch das vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung initiierte, auf viele Jahre angelegte Projekt Handbuch des Antisemitismus zahlreiche Beiträge, die über die Besonderheiten des schweizerischen Antisemitismus Auskunft erteilen. Zsolt Kellers Dissertation reiht sich explizit in diese jüngere Forschung ein und schliesst mit dem Fokus auf die Nachkriegsjahre eine Lücke. Gerade die Zeit nach 1945 wurde, von kürzeren Überblicksdarstellungen von Georg Kreis sowie von Christina Spätis Arbeiten zum Antisemitismus in der politischen Linken abgesehen, bisher stark vernachlässigt.
Chronologisch setzt Kellers Arbeit an Stefan Mächlers Untersuchung Hilfe und Ohnmacht von 2005 an, welche die Jahre der nationalsozialistischen Bedrohung von 1933 bis 1945 zum Gegenstand hat. Die Eingrenzung der Untersuchung auf die Jahre zwischen 1943 und Mitte der 1960er-Jahre ist jedoch nicht nur aus forschungsstrategischer Sicht sinnvoll, sondern überzeugt ebenso auf inhaltlicher Ebene. Diese rund 20 Jahre dauernde Phase zwischen der Gründung des Ressorts «Abwehr und Aufklärung» im Jahr 1944 durch den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG), die Dachorganisation der jüdischen Gemeinden in der Schweiz, und dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem kann nämlich als relativ homogene Epoche gelesen werden: Erst mit dem Eichmannprozess trat die Rezeption der Schoah und damit verbunden die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus international und national in eine neue Phase. Diese Wendemarke in der Erinnerungskultur ist für die vorliegende Studie deshalb auch so bedeutend, weil sich die Arbeit an aktuellen erinnerungstheoretischen Überlegungen orientiert.
Die sehr zu empfehlende Untersuchung von Zsolt Keller zeigt die verschiedenen Formen von Judenfeindschaft in der Schweiz nach 1945 aus der Perspektive des SIG auf, analysiert die vielfältigen juristischen, medialen und politischen Anstrengungen, sich dagegen zur Wehr zu setzten, und legt die Bemühungen des Gemeindebunds offen, sich im Kampf gegen den Antisemitismus neue, nicht-jüdische Verbündete zu suchen. Kellers Arbeit basiert auf der Auswertung der Bestände des Archivs des SIG, die sich im Archiv für Zeitgeschichte in Zürich befinden. Auf überzeugende Art und Weise argumentiert Keller, dass das Archiv des SIG als, wie er schreibt, «helvetischer lieu de mémoire» zu begreifen ist, der die Darstellung der Übergriffe gegen die Minderheit der Juden überhaupt erst ermöglicht hat und somit «der Wahrung politischer und religiöser Grundrechte von Jüdinnen und Juden dient». (243) Bemerkenswerterweise waren sich bereits die Zeitgenossen dieser memotechnischen Bedeutung des Archivs bewusst.
Neben diesen stärker erinnerungstheoretischen Überlegungen bietet die Studie Einblicke in die Struktur des SIG und die Organisation des Ressorts «Abwehr und Aufklärung». Schon während des Kriegs waren sich die Verantwortlichen im SIG bewusst, dass die jüdische Gemeinschaft der Schweiz für die Jüdinnen und Juden im Nachkriegseuropa eine wichtige kulturelle und politische Rolle spielen würde. Zugleich sollte das äusserst vorsichtige, defensive Agieren des SIG, das die jüdische Interessenspolitik während des Zweiten Weltkriegs gekennzeichnet hatte, in ein couragierteres Auftreten überführt werden. Hiefür war man auf die Zusammenarbeit mit nichtjüdischen Institutionen angewiesen. Ende April 1946 gründeten unter dem unmittelbaren Eindruck der Schoah Juden und Christen die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft, die sich zum Ziel setzte, sich über die Religionsgrenzen hinweg stärker gegen antisemitische Tendenzen in Presse und Öffentlichkeit zu engagieren. Nach verschiedenen Debatten über den Kurs der Arbeitsgemeinschaft kam es jedoch bereits zu Beginn der 1950er-Jahre zu einer «Theologisierung» der Arbeitsgemeinschaft. Ein wichtiger Partner im Kampf gegen den Antisemitismus wurde im Verlauf der 1950er-Jahre die Gesellschaft Schweiz-Israel.
Interessant zu lesen sind insbesondere die Kapitel zu den Auswirkungen der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 auf das Selbstverständnis der Juden in der Schweiz und auf die Politik des Jüdischen Gemeindebunds. Die Staatsgründung festigte die jüdische Gemeinschaft und stärkte den Gemeindebund politisch, doch die Konsequenzen für die Schweizer Juden waren durchaus ambivalent. Auf der einen Seite erleichterte die Staatsgründung die Schaffung von überparteilichen Organisationen wie der Gesellschaft Schweiz-Israel, womit auch die Abwehr des Antisemitismus gestärkt wurde. Es konnten verschiedene Erfolge erzielt werden, wie die Streichung der Zwangsvornamen «Israel» und «Sara» aus dem zürcherischen Steuerregister. So hatte die Stadt Zürich entgegen der schweizerischen Praxis die Zwangsvornamen in den Pässen deutsch-jüdischer Immigranten in ihre Stammdaten aufgenommen. Auf Intervention der National-Zeitung und des SIG klärten die Zürcher Behörden 1946 bei allen Steuerpflichtigen ab, ob diese den tatsächlichen Geburtsnamen entsprachen. Allerdings scheiterten alle Bestrebungen, antisemitisch motivierte Äusserungen unter Strafe zu stellen bis in die Mitte der 1990er-Jahre. Auf der anderen Seite war der Staat Israel von Beginn an Gegenstand antisemitischer Projektionen. Und seither sehen sich die Jüdinnen und Juden der Schweiz mit dem Vorwurf unterschiedlicher Loyalitäten konfrontiert.
Die Darstellung antisemitischer Kampagnen und beschämender Vorfälle ab 1943, wie Angriffe gegen jüdische Hotelangestellte oder jüdische Flüchtlinge, bildet einen weiteren wichtigen Teil der Arbeit Kellers. Zugleich zeigt er, dass die Haltung der Behörden häufig darauf hinauslief, die Vorfälle herunterzuspielen. An dieser Stelle wären einige Bemerkungen zum Umgang mit jüdischen Flüchtlingen aus Ägypten, die nach der Suezkrise Ende 1956 in die Schweiz einzureisen versuchten, wünschenswert gewesen. Während Regierung und Behörden mit der grossherzigen Aufnahme von Flüchtlingen aus Ungarn seit November 1956 nicht zuletzt die Flüchtlingspolitik des Zweiten Weltkriegs hofften vergessen zu machen, zeigt der Umgang mit der kleinen Gruppe jüdischer Flüchtlinge aus Ägypten, dass die Semantiken des behördlichen Überfremdungsantisemitismus zeitgleich weiterwirkten. Erst der beharrliche Einsatz des SIG führte hier zu einem Umdenken.
Zsolt Keller hat eine sehr überzeugende und darüber hinaus angenehm zu lesende Studie vorgelegt. Der Arbeit ist ein breites Publikum zu wünschen, nicht zuletzt weil sie dem schweizerischen Antisemitismus nach 1945 Konturen verleiht, indem sie die Kontinuität antisemitischer Vorurteile nach 1945 ebenso offenlegt, wie sie auf neue, antizionistische Formen der Judenfeindschaft hinweist. Zugleich dokumentiert sie die zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten, sich gegen Diskriminierungen zur Wehr zu setzen. Dabei handelt es sich, wie die Studie eindrucksvoll zeigt, zwar um einen mühevollen Weg, auf dem immer wieder Rückschläge verzeichnet werden müssen, der aber schliesslich auch zur grösseren Akzeptanz und zu besserem rechtlichen Schutz von Minderheiten geführt hat. So bildet Kellers Untersuchung auch ein historisches Lehrstück über den Einsatz für die Grundrechte von Minderheiten in der Demokratie.
tachles Radio, 28.02.2011: Zsolt Keller im Gespräch über seine Dissertation (www.tachles.ch/radio)
«Keller hat mit dieser Publikation eine spannende Epoche schweizerisch-jüdischer Zeitgeschichte der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.»
Daniel Gerson, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
«Beschämendes fördert Zsolt Keller in seiner Untersuchung des Antisemitismus während des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit danach zutage.»
Neue Zürcher Zeitung
«Mit seiner sehr gelungenen und lesenswerten Dissertation über die Abwehr- und Aufklärungsstrategien, mit denen der SIG auf judenfeindliche Vorfälle zwischen 1943 und dem Beginn der 1960er Jahre reagierte, legt Zsolt Keller, wie er betont, den Fokus auf eine Geschichte des Antisemitismus in der Schweiz [...]. Ein besonderes Verdienst des Buches ist hierbei, dass es die Judenfeindlichkeit mit ihren Kontinuitäten und Brüchen über das Ende des Zweiten Weltkriegs – das für die Schweiz eine weniger einschneidende Zäsur als für den Grossteil Europas war – hinaus analysiert und damit einen wertvollen Beitrag zu einer in der schweizerischen Antisemitismusforschung bislang nur sehr unzureichend untersuchten Periode des Antisemitismus leistet.»
Thomas Metzger, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte