Vielgestaltig waren seine geistigen Interessen, innovativ seine Denkart. Das Leben und Werk des Schweizer Schriftstellers Carl Albert Loosli (1877–1959) laden dazu ein, den progressiven, provokanten und kämpferischen Künstler historisch im literarischen Feld seiner Zeit zu verorten. Ein solches Vorhaben entlang des intellektuellensoziologischen Ansatzes Pierre Bourdieus erscheint in sofern viel versprechend, als Loosli die Machtkonstellationen des literarischen Betriebes in der Schweiz nicht nur kritisierte, sondern zugunsten von mehr Autonomie der Schreibenden sowie eines direkteren Zugangs ihrerseits zu den Lesenden gezielt zu verändern suchte. (148, 228) Dies nicht nur um dadurch die Wirkungschance seiner literarischen Texte, sondern auch seiner politischen Interventionen zu verbessern. Davon berichtet Loosli-Forscher Erwin Marti im vorliegenden Werk. Es handelt sich um den ersten Teil des dritten Bands innerhalb seiner umfangreichen Biografie über den Mundartschriftsteller, Journalisten und kritischen Intellektuellen aus dem bernischen Bümpliz. Während Marti im ersten Band die tragische Sozialisation des in diversen Jugendanstalten malträtierten Waisen bis zu seiner Etablierung als Journalist (1877–1907) darlegt, konzentriert sich der zweite Band auf Loosli als Satiriker, Kriminalautor und Schweizkritiker, auf sein kulturpolitisches Engagement und seinen täglichen Existenzkampf (1904–1914). Der dritte Band nun, unterteilt in zwei Bücher, setzt sich mit den vielseitigen couragierten politischen Interventionen des Bümplizers auseinander (1914–1959); Band III/1 gilt es hier zu besprechen.
Looslis politische Eingriffe haben auch retrospektiv nichts an Faszination eingebüsst, vor allem wenn man bedenkt, wie innovativ seine Ideen und wie radikal seine soziopolitische Kritik auf Zeitgenossen gewirkt haben mochten. Entsprechend hoch, so Marti, war der Sanktionsdruck, dem sich der Intellektuelle aufgrund seiner Interventionen in brisante herrschaftspolitische Belange jahrzehntelang ausgesetzt sah, worauf der Untertitel des Buches – «Im eigenen Land verbannt» – verweist. Die damit einher gegangenen andauernden Probleme der familiären Existenzsicherung – Loosli hatte im Lauf der Jahre seine Frau und fünf Kinder zu versorgen, wirft die Frage nach Motiven seiner vielerorts angefeindeten Eingriffe auf. Diesbezüglich verweist Marti plausibel auf Looslis Sozialisation als Kind, Jugendlicher und Bohemien, in denen er Erfahrungen von so prägender Kraft gemacht hatte (vgl. Bd. 1), dass die Erinnerungen daran sein Denken und Handeln lebenslang leiteten. So hatte Loosli während seiner Odyssee durch Schweizer Jungenderziehungsanstalten, vor allem in Trachselwald «Diktatur mit Terror, Folter, Bespitzelung am eigenen Leibe erfahren, […] Zensur und seelischen Zwang erlebt». Zudem war er 1898 in Paris «mitten in die Turbulenzen der Affäre Dreyfus» geraten, hatte vor Ort den beeindruckenden Kampf Emile Zolas zugunsten der Menschenrechte verfolgen können. (8 f.) Trachselwald und Paris als Looslis Schlüsselerlebnisse zu bezeichnen, ist nahe liegend, denn zwei seiner wichtigsten und langwierigsten politischen Themen waren, erstens, die Reform des Anstaltswesen und Jugendrechts sowie, zweitens, die Bekämpfung des Antisemitismus in der Schweiz.
Es sind Looslis Interventionen in beide Sachgebiete, die Marti in jeweils zwei Kapiteln umfassend schildert. Wenngleich sich der Biograf nicht explizit auf theoretische Ansätze bezieht, beantwortet seine Gesamtdarstellung doch implizit ein an entsprechenden Fragestellungen orientiertes historisches Erkenntnisinteresse. Das Buch ist abgesehen von einer kurzen Einleitung in zehn Kapitel aufgeteilt. Am Ende befinden sich der Anmerkungsapparat, das Abkürzungsverzeichnis, die Bibliografie, ein Dank und ein Personenregister. Nach einem thematischen Aufriss (Kap. 1), folgt ein Abschnitt, der sich mit Looslis Gedankenwelt während des Ersten Weltkriegs auseinandersetzt (Kap. 2). In Kapitel 3 entfaltet Marti Looslis Freundschaft zum Schweizer Künstler Ferdinand Hodler, dessen Archivar er wurde. Es sind vor allem die Kapitel 4–10, in denen sich, dank Martis fundierter Darstellung, ein komplexes Bild des Intellektuellen Loosli erschliessen lässt.
In den Kapiteln 4, 7 und 8 wird vielfältig die elementare Bedeutung aufgezeigt, die Kunst gemäss Loosli für das Gemeinwesen habe, weswegen deren Schöpfern, so sein Plädoyer, auch von staatlicher Seite eine stärkere symbolische Geltung zugesprochen werden müsse. (147) Ausgehend von einem schlechten Menschenbild (275 f.) sah er den Zweck von Kunst in der «Förderung unseres allgemeinen Menschentums», (137) mithin in der «Gesittung» einer Gesellschaft im Sinn des Gegenteils von Barbarei. (284 f.) So engagierte er sich für die soziale Aufwertung und die berufliche Autonomie von Kulturschaffenden etwa für das Urheberrechtsgesetz (143) oder für Selbstorganisation und Berufsausbildung. (145) Seine Ideen waren oft ihrer Zeit voraus, etwa sein Plädoyer für eine Alltagsgeschichte (279) oder seine angesichts des NS-Jargons 1934 formulierte These, Sprache diene als «zuverlässiger Gesittungsgradmesser» einer Gesellschaft. (260) So erscheint Loosli, gemäss Marti, bereits in den 1920er-Jahren hinsichtlich des sich auch in der Schweiz verbreitenden antisemitischen Klimas «geleitet vom Gespür des Visionärs, der drohendes Unheil ahnte». (310) Die Dreyfuss-Affäre habe ihn dafür sensibilisiert, «die Gefährlichkeit des Antisemitismus für die Demokratie, für die Menschen- und Bürgerrechte und für den Zusammenhalt eines Volkes zu erkennen». (291) Loosli – geleitet von Mitgefühl und Nächstenliebe sowie von Prinzipien der Aufklärung, Toleranz, Gerechtigkeit und des Minderheitenschutzes – griff ein, dies nicht zu letzt um der republikanischen Staatsform willen, zum Schutz der Schweizer Demokratie.
Er führte seinen unermüdlichen Kampf gegen den Antisemitismus in zahlreichen Schriften kenntnisreich und mit bewundernswerter Zivilcourage. Zu Recht würdigt Marti diese imposanten Interventionen, indem er detailliert davon Zeugnis ablegt. Bereits 1926 reagierte Loosli auf judenhetzerische Schmähschriften mit seiner viel beachteten Abhandlung Die schlimmen Juden. 1934 wurde er zum überparteilichen Gutachter im Berner Prozess berufen (Kap. 9 und 10). Antrieb, eingeklagte Wertideen, Argumentationen und Kritik werden von Marti ebenso ausgeführt wie die mannigfache Resonanz darauf und die Netzwerke, in denen sich der Bümplizer bewegte. Sorgfältig stellt er auch Looslis bahnbrechende Eingriffe zugunsten eines Wandels des Anstaltslebens und Jugendrechts dar (Kap. 5 und 6), die zu institutionellen Reformen führten.
Marti hat mit seinem quellenreichen Band III/1 eine facettenreiche Intellektuellengeschichte über einen der bemerkenswertesten humanistischen Querdenker der Schweiz im 20. Jahrhundert vorgelegt. Anzumerken wäre, dass bei einigen Ausdrücken unklar ist, ob es sich um Quellenzitate handelt. Zudem hätten die Bibliografie durch eine alphabetische Ordnung übersichtlicher gestaltet und Looslis Ideen teilweise mehr historisiert werden können. Letztlich jedoch zählt, dass es Marti gelingt, die Magie eines engagierten Künstlers und kritischen Intellektuellen einzufangen, der zwar bei einigen Eliten seiner Zeit verfemt war, dessen Texte und Taten aber noch Jahrzehnte später zu fesseln vermögen.
«Marti ist ohne Zweifel der umfassendste und genauste Kenner Looslis.»
Stefan Howald, NZZ am Sonntag
«Auch dieser erste Teil von Band 3 der Loosli-Monografie überzeugt durch die Ernsthaftigkeit, wissenschaftliche Gründlichkeit, Klarheit und Hingabe, mit der Erwin Marti das Schaffen und die bis heute anhaltende Wirkung des weltoffenen Bümplizer Journalisten und Schriftstellers darstellt. […] Marti ist – wie seinerzeit Loosli für Hodler – ein Glücksfall eines Biografen!»
Barbara Traber, orte – Schweizer Literaturzeitschrift