Die Hauptthese der Dissertation von Thomas Gees ist so kurz wie kontrovers: Die Schweiz habe beim Zusammenwachsen Europas keineswegs im Abseits gestanden. Vielmehr sei sie heute ein wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch hoch integriertes europäisches Land mit einigen institutionellen Besonderheiten.
Gewiss hat sich die Europa-Idee in der Schweiz innenpolitisch schwer getan und das Verhältnis zur EU bleibt höchst umstritten. Der Europäisierungsprozess, den die Studie überzeugend rekonstruiert, weist aber weit über die EU hinaus und ist gerade deshalb am Schweizer Beispiel historisch gut sichtbar zu machen. Er besteht im Wesentlichen darin, dass sich seit den 1950er-Jahren in allen westeuropäischen Ländern gemeinsame wirtschafts- und gesellschaftspolitische
Konzepte ausbildeten, die wiederum als Referenzen der Innenpolitik dienten.
Das Thema des Buches ist die Welt der Spitzenbeamten und der Sachreferenten, die bei der Betreuung ihrer verschiedenen Dossiers stets sehr genau beobachtet haben, was auf dem internationalen Parkett debattiert wurde. Innenpolitisch bedeutsame Wegmarken wurden daher in zunehmender Übereinstimmung mit jenen Vorstellungen gesetzt, die etwa im Rahmen der OECD ausgetauscht und erörtert worden sind. Gees bezieht sich auf Martha Finnemore, die den normsetzenden Charakter multilateraler Organisationen hervorgehoben hat. Bisher ist die
Gestalt solcher Körperschaften weitgehend aus der Summe der in ihnen vereinten nationalen Interessen erklärt worden. Die amerikanische Politologin hat dagegen die Perspektive gewechselt und postuliert, dass staatliche Interessen auch stark durch die diskursiven Angleichungsprozesse innerhalb internationaler Organisationen geprägt würden. Integration gewinnt so einen eigenständigen Charakter, der über machtpolitische Konstellationen hinaus weist und in das Feld
technischer Absprachen und Standardisierungen führt. Für die Schweiz heisst dies, dass sie nicht nur gewissermassen aus sich selbst heraus ihre Position zum zusammenwachsenden Europa zu finden hatte, sondern den Prozess der Europäisierung auch produktiv aufnehmen und manchmal sogar mitprägen konnte.
Gees konkretisiert diese These an drei exemplarischen Politikfeldern. Nach einem konzisen Überblick zum westeuropäischen Multilateralismus der Nachkriegszeit und zur Rolle der Schweiz darin, richtet er den Blick auf die Fremdarbeiterproblematik, auf die Landwirtschaft und auf die Forschungs- und Bildungspolitik. In jedem der drei Hauptteile wird zunächst die europaweite Debatte skizziert und dann gefragt, wie diese in die Bundespolitik einfloss.
Kurze Zusammenfassungen bringen alle drei Untersuchungsfelder abschliessend auf den Punkt. Im Verbund mit der brisanten übergreifenden Fragestellung macht dieser strenge Aufbau das an sich eher trockene Material leicht zugänglich. Überdies sind die Themen klug gewählt. Migration, Handelsliberalisierung und Wissensgesellschaft sind Politikbereiche von enormer Gegenwartsrelevanz. Zur Klärung ihrer historischen Dimension liegt nun ein neues Standardwerk vor.
Es ist der Bundespolitik gut gelungen, ihre Adaptionsleistungen an
westeuropäische Standards aus den innenpolitischen Debatten heraus zu halten. Sie tat dies, indem sie – gemäss der «Bindschedler-Doktrin» von 1954 – sorgfältig hoch politische Themen als rein technische Angelegenheiten darstellte. Besonders deutlich wird dies bei der Arbeitsmigrationspolitik. Während die Schweizer Öffentlichkeit mit der «Überfremdungsfrage» schwer beschäftigt war, wechselten die federführenden Bundesbeamten stillschweigend von dem sehr restriktiven Rotationsmodell zum viel permissiveren Integrationsmodell, das sich in den 1960er-Jahren unter massgeblichem Einfluss Italiens europaweit etablierte. Bezeichnenderweise hielt man aber an einer durchaus restriktiven Rhetorik fest, gerade im Kontext des auf vermehrte Freizügigkeit zielenden «Italienerabkommens» von 1964. Bei der Agrarpolitik, dem zweiten Fallbeispiel von Gees, verlief der Einfluss der internationalen Debatte auf die Schweizer Verhältnisse weniger gerichtet. International stand dieser Politikbereich ganz im Spannungsfeld zweier Zielvorgaben, der Produktivitätssteigerung einerseits und der Einkommenssicherung anderseits. Das Problem stellte sich in der Schweiz genau gleich. Hier kam man aber, im Interesse der Sicherung eines «gesunden Bauernstandes», früher als andernorts auf die Idee, produktionsunabhängige Direktzahlungen an landschaftsgärtnernde Bauern zu zahlen. Welchen Einfluss der St. Galler Ökonom Hans Christoph Binswanger auf den internationalen Diskurs hatte, könnte Gegenstand künftiger Untersuchungen sein. Bei der Wissenschafts_politik zeigt sich wiederum ein anderes Bild. Hier hinkte die Schweiz der massgeblich von den USA bestimmten Entwicklung lange hinterher. Nur mit grossen Schwierigkeiten erarbeitete sich der Bund im enorm föderalistisch geprägten Hochschulwesen einen eigenen Aktivitätsraum, von dem bis heute nur eine beschränkte Wirksamkeit
ausgeht. Es wundert nicht, dass die OECD die Schweiz wiederholt gerügt hat. Die Arbeit von Gees löst sich auf erfrischende Weise von der Zelebrierung des Sonderfalls und bringt die umstrittene Europafrage auf eine sachliche Ebene. Sein Blick auf die Konzeptwelt der Bundesverwaltung erweitert die nationale Forschungsperspektive, die sich bislang meist auf die innenpolitische Meinungsbildung konzentriert hat. Der konsequente Bezug auf internationale Debatten macht seine Darstellung der Europäisierung überdies zu einer
europäisierten Sichtweise. Auch Leserinnen und Leser, deren Interesse anderen westeuropäischen Ländern gilt, dürften so einen Zugang zum Schweizer Fall finden, weil ihnen zahlreiche Grundkonzepte vertraut sind. Schliesslich eröffnet die Studie auch eine Aussenperspektive auf die europäische Integration im Rahmen der EWG. So zeigt Gees, wie die EWG-Kommission die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit (COST-Initiative) als Möglichkeit der Vertiefung der Integration nutzte, weil die Erweiterung in den 1960er-Jahren nicht vorankam.
Bei allem Lob seien gleichwohl einige Kritikpunkte vermerkt. Erstens bleibt das grundlegende Konzept der «Europäisierung» eigenartig diffus. Viele der angesprochenen gesellschaftspolitischen Reformvorhaben betreffen Modernisierungsproblematiken, die keineswegs auf Westeuropa beschränkt sind. Die internationale Homogenisierung der Wissenschafts- und Technologiepolitik beispielsweise erfolgte in Reaktion auf die «Amerikanische Herausforderung» auch in aussereuropäischen OECD-Ländern und sogar in Indien. Gees beschreibt genau genommen einen Globalisierungsprozess, dessen spezifisch europäische Version im Sinne einer «Provinzialisierung Europas» (Chakrabarty) noch zu konturieren wäre. Gleiches gilt für die Agrarpolitik. Eine zweite Kritik betrifft die These, die Europäisierung sei mit einer Stärkung des Nationalstaats einhergegangen. Tatsächlich stand gerade die Schweiz mit ihrer traditionell schwachen Zentraladministration bei der Beschickung internationaler Konferenzen immer wieder vor Kapazitätsproblemen, weshalb es zu gezieltem institution building kam. Institutionelles Wachstum ist aber nicht gleichbedeutend mit innenpolitischem Machtzuwachs. Im wissenschafts- und bildungspolitischen Feld blieben die Hochschulkantone wichtige Player, die direkt Anschluss an
internationale Konzepte und Strömungen suchten. Und noch eine letzte Kritik: Gees konzentriert sich auf den Transfer von Konzepten, thematisiert aber die Standardisierung von Normen und Prozeduren nur ganz am Rand. Das ist schade, denn in diesem technischen Feld wäre die normierende Kraft bürokratischer Internationalität besonders fassbar gewesen. Auch ziert sich Gees, den zahlreichen Spitzenbeamten lebendige Biografien zu geben. Mehr Aufmerksamkeit für ihre lebensweltliche Sozialisierung im internationalen Konferenzwesen hätte
dem Buch ein menschlicheres Gesicht gegeben und zugleich das Argument der Europäisierung mentalitätsgeschichtlich gestärkt.