Völkerbunds-Ja, Uno-Nein, Kosovo-Wende
Neutralität und multilaterale Solidarität der Schweiz
Das Verhältnis der Schweiz zu politischen internationalen Institutionen und
speziell zu deren Zwangsmassnahmen ist nicht unveränderlich. Dies
verdeutlichen zwei aktuelle Publikationen, die im Nationalen
Forschungsprogramm (NFP) 42 über die Aussenpolitik entstanden sind. Eine
historische Studie stellt dem Nein zur Uno von 1986 den Volksentscheid zum
Völkerbundsbeitritt (1920) gegenüber; in einem Sammelband wird das Verhalten
im Kosovo-Krieg (1999) als Ausdruck eines Übergangs dargestellt.
C. W. Wenn sich die Schweiz anschickt, ein zweites Mal über den Beitritt zur
Organisation der Vereinten Nationen abzustimmen, so ist es für das
Verständnis des Problems nützlich - und für die Moral der Befürworter eine
Stärkung -, sich nicht nur das erdrückende Nein vom 16. März 1986 (76
Prozent der Stimmenden und alle Stände) zu vergegenwärtigen, sondern auch
die Zustimmung des Volks (mit knappem Ständemehr) zur Mitgliedschaft im
Völkerbund am 16. Mai 1920. Das Abseitsstehen ist nicht einfach der
historische Normalfall der Schweiz, es gibt auch Kontinuitäten der
Offenheit. In diesem Sinn hat Carlo Moos die beiden Volksabstimmungen
untersucht und in eine Perspektive gerückt.
Ideale - Illusionen - Interessen
Der Autor, Professor für neuere Geschichte an der Universität Zürich, weist
schon in der Einleitung seines Buchs auf wesentliche Unterschiede im
weltpolitischen Kontext hin. Parallelen in den Themen und Kontroversen der
Abstimmungskämpfe (internationale Friedensbemühungen und nationale
Identität, Neutralität und Solidarität) sind insofern allenfalls äusserlich,
und die Betrachtung der Argumentationen beziehungsweise Propagandatexte
allein wäre zu eng. Immerhin zeigen die geduldig, nicht ohne Wiederholungen
ausgebreiteten Materialien, dass nach der Erschütterung des Ersten
Weltkriegs die Kampagne für einen Aufbruch in Richtung kollektiver
Sicherheit eine Welle von Friedenssehnsucht aufnahm und das internationale
Projekt zudem mit Wesen und Mission der Schweiz (des «ältesten Völkerbunds
der Erde») verknüpfte.
In den achtziger Jahren wusste man demgegenüber nicht nur um das Ende des
Völkerbunds, sondern auch um die realen Schwächen der
Nachfolgeorganisation. Die Argumentation war nüchterner, interessenbetont.
Nach fast zwei Jahrzehnten des Prüfens, Diskutierens und Hinausschiebens
fehlte es der Uno-Sache an Schwung, es fehlte ein Engagement der Wirtschaft,
und es fehlten populäre Protagonisten. Dem führenden Gegner, dem früheren
Gewerbepolitiker Otto Fischer, gelang es in dieser Situation, aus der
aussenpolitischen Abstimmung eine Abrechnung mit «Bern» überhaupt zu machen.
Die Beitrittsgegner führten jeweils in ähnlicher Weise die Mängel der
internationalen Friedensorganisation und die Gefährdung der Neutralität ins
Feld. Der «Versailler Völkerbund» wurde besonders in der Deutschschweiz
abgelehnt als System der Sieger von 1918, das die Schweiz in die
Abhängigkeit von Frankreich und letztlich in den Krieg treiben würde. Die
Uno aber war, wie es polemisch hiess, von kommunistischen Staaten und
Entwicklungsländern dominiert, ein «unerfreulicher Verein», von dem man
sich wie von «fremden Händeln» generell fernhalten sollte.
Die Neutralität wurde damit nach Feststellung von Carlo Moos 1986 viel mehr
als 1920 mythisch überhöht. Während der Bundesrat damals mit dem Konzept der
«differenziellen Neutralität» (Teilnahme an nichtmilitärischen Sanktionen)
die Debatte in Grenzen halten konnte, habe er sich in den achtziger Jahren
in die Defensive drängen lassen. Er habe die an sich gleiche Haltung wie
1920 nicht überzeugend vertreten, weil nach dem Zweiten Weltkrieg
Neutralität und Uno-Mitgliedschaft als unvereinbar erklärt worden waren.
Diese Position wiederum ergab sich nach der nur kurz ausgeführten These des
Autors aus der «möglicherweise falschen», unnötigen Rückkehr zur integralen
Neutralität 1938. So anerkennt der Historiker Bedingungen und Verkettungen,
zieht aber doch auch die Lehre, dass die Regierung die künftige Uno-Kampagne
aktiv und - etwa mit der Idee der Solidarität - emotional zu führen habe.
Unterwegs zu kooperativer Sicherheit
Seit dem Verdikt von 1986, besonders nach der weltpolitischen Wende von
1989, hat sich die Aussenpolitik der Schweiz bereits verändert, und zwar
vielleicht mehr, als es nach einem Uno-Beitritt bei anhaltender
Ost-West-Konfrontation der Fall gewesen wäre. Der Beteiligung an den
wirtschaftlichen Uno-Sanktionen gegen den Irak als Besetzer Kuwaits 1990
folgten zuletzt während des Kosovo-Kriegs konkrete Schritte einer wenn nicht
kollektiven, so doch kooperativen Sicherheitspolitik. Das schweizerische
Verhalten im Kontext der Nato-Intervention ist Thema eines von Jürg Martin
Gabriel herausgegebenen Bandes, der insgesamt die katalytische Wirkung
jener Ereignisse hervorhebt. Inzwischen ist ja auch das Engagement mit
Friedenstruppen durch - knappe - Zustimmung des Volks zur Bewaffnungsvorlage
vor einer Sackgasse bewahrt worden.
Insbesondere der Herausgeber selber, Professor für Politikwissenschaft an
der ETH Zürich und Präsident der Leitungsgruppe des NFP 42, sieht allerdings
auch verpasste Chancen und kritisiert einen Mangel an aussenpolitischer
Kohärenz. So schloss sich die Schweiz zwar dem einseitigen
Kriegsmaterialembargo der Uno gegen Jugoslawien an und trug auch die meisten
Sanktionen der EU mit, beschränkte sich jedoch bei deren Ölembargo auf das
Verbot von Umgehungsgeschäften. Als innovativ und erfolgreich wird der
Helikoptereinsatz für die Flüchtlingstransporte des UNHCR bezeichnet,
zugleich in positivem Sinn (aber kaum korrekt) als «höchst parteilich»;
negativ wird die trilaterale Hilfsoperation «Focus» beurteilt.
Endet alles in der Integration?
In einem sozusagen ideologiegeschichtlichen Rückblick machen Matthias Kunz
und Pietro Morandi auf die «Ironie» aufmerksam, dass gerade die Armee,
Kernstück der Selbstbehauptung in einer pessimistisch beurteilten Welt, zum
Faktor der Modernisierung des Selbstverständnisses geworden ist. Mit
sicherheits- und europapolitischen Argumenten plädieren mehrere Autoren für
eine weitergehende Zusammenarbeit und Verflechtung mit der Nato. Gerade der
Friedensforscher Günther Bächler führt den Gedanken der humanitären
Intervention so weit, dass ein Vorgehen gegen völkerrechtliche Verbrechen
wie Ge- nozid als unausweichliche Pflicht, die Neutralität hingegen -
ihrerseits eine Einrichtung des älteren Völkerrechts - als etwas
Absterbendes erscheint.
Ganz kurz streift Bächler auch «die Gefahr des Missbrauchs der Macht», und
Heiko Borcherts Beitrag macht unter anderem bewusst, dass das Verhältnis von
EU oder Nato zu Russland noch sehr unklar ist. So scheint es fast etwas
naiv, wie wenig nach den Motiven der grossen Akteure gefragt und die
Perspektive auf ein Ende traditioneller Konflikte eingeengt wird. Zur
naheliegenden Frage, ob die aussenpolitische Integration in einen Beitritt
zur Nato münden soll, schweigen die engagierten Autoren. Einen Gegenakzent
setzt Andreas Ernst, wenn er sich weiterhin einen Bedarf an neutraler
Disponibilität vorstellen kann und jedenfalls eine gründliche Diskussion
über die Schweizer Neutralität für unumgänglich hält.
Was ergibt sich für die Uno-Abstimmung? Der formelle Beitritt ist in seiner
Bedeutung bereits relativiert; für Emotionen bleibt nicht viel Raum, zumal
die politische Mitte zu gewinnen ist. Fraglich ist, ob die reale Politik
bereits allgemein mitgetragen und die Konsequenz gezogen wird. Bei der
Bewusstwerdung der Rolle und Aufgabe einer solidarischen Schweiz könnten im
Übrigen die Sicherheitspolitiker kein Monopol beanspruchen - immerhin hat
die Entwicklungspolitik schon gut 40 Jahre langfristige Interessen im
weiteren Umfeld erkannt und wahrzunehmen versucht.
Carlo Moos: Ja zum Völkerbund - Nein zur Uno. Die Volksabstimmungen von
1920 und 1986 in der Schweiz. Chronos- Verlag, Zürich / Editions Payot,
Lausanne 2001. 231 S., Fr. 38.-.
Jürg Martin Gabriel (Hrsg.): Schweizerische Aussenpolitik im Kosovo-Krieg.
Orell Füssli, Zürich 2000. 223 S., Fr. 49.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung INLAND 07.08.2001 Nr. 180 13