Innerschweizer, Flüchtlinge, Konservative
Randständige Blicke auf den Umbruch von 1848
tmn. Der Umbruch von 1848 in der Schweiz wird aus verschiedenen Gründen
vorwiegend aus der Sicht der liberalen Sieger beschrieben; so zeigten, im
Unterschied zu diesen, die unterlegenen Sonderbündler wenig Lust, ihre
Kriegserinnerungen der Nachwelt gedruckt zu überliefern. Solchen Lücken in
der Überlieferung und Wahrnehmung rücken zehn Autorinnen und Autoren zu
Leibe, welche die Innerschweiz im frühen Bundesstaat vorstellen. Während der
Herausgeber Aram Mattioli die nicht nur politische, sondern vor allem auch
wirtschaftliche Zweiteilung der Schweiz hervorhebt und eine internationale
Einbettung postuliert (beides zu Recht), spricht er von einem «nationalen
Einigungskrieg» - dies zu Unrecht. Stattdessen könnte man
«Vereinheitlichungskrieg» sagen: Lincoln lässt grüssen, nicht aber Bismarck
oder Garibaldi. Gewiss, die Schweizer «Nation» musste hier wie anderswo
«konstruiert» werden; dass es aber «Eidgenossen» bereits gab, erklärt,
weshalb diese Übung hier viel weniger Opfer forderte als bei den nördlichen
und südlichen Nachbarn.
Isolierte Innerschweiz
Die von Mattioli konstatierte wirtschaftliche Verspätung des industriearmen,
agrarischen Landesteils wird von Peter Schnider nicht als Folge, sondern -
in einer diskutablen These - insofern als ein Grund des Bürgerkriegs
verstanden, als sie insbesondere in Luzern zu einer «Statusdiskrepanz
zwischen wirtschaftlicher Kapazität und politischem Führungsanspruch»
geführt habe. Die traumatische Niederlage von 1847 prägte das
Selbstverständnis der durch den Föderalismus gestützten katholischen
«Sondergesellschaft», die Heidi Bossard-Borner präsentiert. Im Verlauf des
Jahrhunderts verstärkte sich die antimodernistische Überzeugung zusätzlich,
parallel zur verhärteten Position der Kurie und in Anlehnung an sie.
Josef Lang zeigt im Detail, dass erst das Vatikanische Konzil und das
Unfehlbarkeitsdogma Obwalden klar ins ultramontane Lager trieben - oder
erlaubten, dass Kleriker und «gesinnungsklerikale Laien» den Stand dorthin
trieben. Bis 1872 hatte Ständerat Niklaus Hermann, obwohl einst Anhänger des
Sonderbunds, als «liberalisierendes schwarzes Schaf» seinen Mitbürgern
vermitteln können, dass der Bundesstaat Vorrang habe vor dem «Kirchenstaat».
In der ersten Abstimmung über die Revision der Bundesverfassung
triumphierte jedoch auch in Obwalden der reaktionäre Standpunkt von Hermanns
Nidwaldner Gegenspieler, dem Pfarrer und Volksschriftsteller Remigius
Niederberger, der im ultramontanen Piusverein ein wirkungsmächtiges Medium
besass. Evelyn Boesch und Sibylle Omlin weisen darauf hin, dass die
Geschlechtergeschichte - auch - in der Innerschweiz ein bisher
randständiges Thema ist. Im Porträt der Zuger Biographin Pestalozzis,
Josephine Stadlin, zeigen sie, welche Möglichkeiten eine (bürgerliche) Frau
besass, um mit einer Privatschule im Bildungsbereich Karriere zu machen.
Konservative Neuenburger
Bei der Fixierung auf die katholischen Sonderbundorte wird oft übersehen,
dass diese in ihrem Kampf gegen den Liberalismus auf die Sympathie, ja
Hilfe vieler konservativer Protestanten zählen konnten. So blieb neben
Basel-Stadt auch Neuenburg im Krieg neutral. Daran erinnert ein Sammelband,
der die Rolle des damaligen preussischen Fürstentums im Spannungsfeld
zwischen der Schweiz und Europa darstellt und unter diesem Aspekt die
Entwicklung thematisch eher heterogen bis in die Gegenwart verfolgt. Rudolf
Gugger schildert die Optionen, um die nach dem liberalen Umsturzversuch von
1831 auch dank der Geburt einer politischen Presse öffentlich gestritten
werden kann: der von den Aufständischen gewünschte Anschluss an die
regenerierte Schweiz, die völlige monarchistische Loslösung von der
Eidgenossenschaft und schliesslich die von Preussen selbst gewünschte
massvolle Distanzierung im Status eines zugewandten Orts. Erst der durch die
Pariser Februarrevolution ermöglichte liberale Umsturz vom 1. März 1848
setzte die Schweizer Variante durch und erlaubte es dem von Maurice de
Tribolet zitierten Sieur Rossel zu sagen, «que comme la Suisse est un pays
libre, ergo il est libre de dire qu'il se f. . . des rois».
Die Asylsuchenden von 1848
Nicht als Thema, aber - entgegen der vorherrschenden Meinung - in der
Realität oft randständig waren auch die Asylsuchenden in den Jahren um
1848. In einem vom Bundesarchiv herausgegebenen, mit Bestandesanalysen
ergänzten Band hält Thomas Busset fest, dass sich liberale Oppositionelle
auch gegenüber Gesinnungsgenossen als restriktive Realpolitiker entpuppen
konnten, sobald sie in Kantonen und später auch im Bund die Macht erlangten.
Dies galt sogar für den Radikalen James Fazy in Genf, der sich anfangs mit
den Emigrierten solidarisiert hatte (Marc Vuilleumier), und erst recht für
die Basler Konservativen, nachdem die badischen Republikaner 1849 zum
dritten Mal mit einem Aufstand gescheitert waren. Hermann Wichers
interpretiert diese Rigidität des jungen Bundesstaats innenpolitisch als
Harmonieübung von Liberalen und Konservativen und aussenpolitisch als
Bemühung um die prekäre internationale Anerkennung.
Wie auch Reiner Gross und Bärbel Förster am Beispiel sächsischer Emigranten
zeigen, zielten die Interventionen des Bundesrates darauf ab, dass die
Flüchtlinge in ihrer Heimat amnestiert würden und so zurückziehen konnten.
Vor allem für die «Rädelsführer» war diese Lösung schwer zu bewerkstelligen,
so dass sie oft nach England und Nordamerika emigrierten. Richard Wagner war
aber nicht der Einzige, der in der Schweiz Asyl fand; auch wenn die
Aufnahmebereitschaft nicht mythisch überhöht werden darf, galt die Schweiz
auf dem Kontinent nicht zu Unrecht als relativ attraktives Fluchtziel. Wie
Gérald Arlettaz einleitend festhält, herrschte allerdings noch lange
Einvernehmen darüber, dass «Asylrecht» keinen individuellen Anspruch meinte,
sondern ein vom Staat souverän ausgeübtes Recht: der Gewährung ebenso wie
der Verweigerung.
Ein Schweizer im belagerten Wien
Die europäischen Revolutionen brachten nicht nur Flüchtlinge in die Schweiz,
sie hatten auch direkte Schweizer Zeugen. Mit einunddreissig Jahren
veröffentlichte der Glarner Johann Jakob von Tschudi 1849 eine Monographie
«Wiens Oktobertage», die jetzt in einer Neuauflage vorliegt. In der
österreichischen Hauptstadt sollte der Mediziner und Naturforscher ab 1866
als Gesandter seiner Heimat wirken, doch hatte er sich bereits 1845 dort
niedergelassen, die revolutionären Ereignisse tagebuchartig aufgezeichnet
und um eine illustrative Sammlung von 163 Manifesten und Flugblättern
ergänzt. Tschudi erweist sich als Kritiker der Revolutionäre, unter denen er
zwar auch Gutgesinnte erkennt, die aber gegen das «geistige Proletariat» und
die «anarchische Partei» nichts vermögen; dort herrschen «heuchlerische,
perfide Gesinnung, gepaart mit demütigem Äussern und süsslicher
trügerischer Rede, brutale Teilnahmslosigkeit, masslose Eitelkeit». Die
Erschiessung Robert Blums sieht Tschudi als politisch nicht unbedingt klug,
aber durchaus rechtmässig an; an seinem Lob für die kaiserlichen Feldherren
Windischgrätz und Jelacic ändert sie nichts. Die Bewunderung eines
Schweizers für solche - bluttriefenden - Retter der Monarchie ist gerade
deshalb interessant, weil sie in das vorherrschende Geschichtsbild kaum
hineinpasst - darin den gedemütigten Verlierern von 1847 und einer
nüchternen Betrachtung der Asyltradition nicht unähnlich.
Alexandra Binnenkade / Aram Mattioli (Hg.): Die Innerschweiz im frühen
Bundesstaat (1848-1874). Gesellschaftsgeschichtliche Annäherungen.
Chronos-Verlag, Zürich 1999. 248 S., Fr. 38.-.
Jean-Marc Barrelet / Philippe Henry: Neuchâtel, la Suisse, l'Europe
1848-1998. Editions universitaires, Freiburg 2000. 334 S., Fr. 39.-.
Das Asyl in der Schweiz nach den Revolutionen von 1848. Studien und Quellen,
Bd. 25. Verlag Paul Haupt, Bern 1999. 334 S., 2 Abb., Fr. 39.-.
Johann Jakob von Tschudi: Wiens Oktobertage 1848. Hg. von Ferdinand Anders.
Wiborada, Schellenberg (FL) 1998. 351 S., Fr. 60.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 24.07.2000 Nr. 170 24