Die Blütezeit des Bilateralismus
Schweizerische Aussen( wirtschafts)politik 1930-1960
tmn. An vier Kolloquien haben 18 meist jüngere Forscherinnen und Forscher
im Umfeld des Nationalen Forschungsprogramms 42 («Die Aussenpolitik der
Schweiz 1937-1989») Studien präsentiert und diskutiert, die Peter Hug und
Martin Kloter in einem voluminösen Sammelband mit einer ebenfalls
umfangreichen Einführung präsentieren. Die Jahre von der
Weltwirtschaftskrise bis zum Europäischen Währungsabkommen von 1958 werden
deshalb als zusammengehöriger Block erfasst, weil in ihnen die - für die
stark exportorientierte Schweiz kapitalen - Aussenwirtschaftsbeziehungen
wie nie zuvor oder danach reguliert waren und auf Grund
nationalwirtschaftlicher Kriterien beurteilt wurden, so dass in dieser
Periode ein von den Interessenverbänden mitgetragener Bilateralismus
dominierte.
Europäische Vernetzungen
1913 entsprach der Export einem Drittel des Nettosozialprodukts, 1932 waren
es noch 10 Prozent, 1945 nicht viel mehr, und die 25,9 Prozent von 1924
sollten erstmals 1969 wieder übertroffen werden (zum Vergleich: 1995 waren
es 28,3 Prozent). Der radikale Zusammenbruch der Exporte und die daraus
folgenden Probleme der Zahlungsbilanz veranlassten die Schweiz ab 1931, dem
interventionistischen Beispiel der meisten anderen Länder zu folgen und die
Einfuhren mit Importkontingentierungen und der Abwertung von 1936 in den
Griff zu bekommen. Dazu kam der eigentliche Bilateralismus, der
Importkontingente gleichsam im Tausch gegen Exportmöglichkeiten für
international beschränkt konkurrenzfähige «non-essentials» zugestand
(Textilien, Uhren, Landwirtschaftsprodukte) und gegebenenfalls den
Handelspartnern mit staatlichen Krediten beistand. Sein Hauptinstrument war
der durch zwischenstaatliche Verträge gebundene Handels- und Zahlungsverkehr
als eine Form der Devisenbewirtschaftung. Ab 1934 lenkte dies den
Aussenhandel - nicht ohne politische Relevanz - zulasten der
(überseeischen) Länder mit freiem Devisenverkehr in das
deutsch-kontinentale System des Clearings um, vor dem Krieg mit dem Ziel der
Exportförderung, ab 1939 zur Landesversorgung.
Ab dem Kriegsende spielte ein ähnliches Netz von Zahlungsabkommen, das um
das britische Pfund gruppiert war - also auch diesmal ein Wirtschaftsraum,
der mit dem Dollar konkurrierte. Darin suchte die Schweiz bis Mitte der
fünfziger Jahre handelspolitisch einen europäischen «dritten Weg» zwischen
den Blöcken, unter Einschluss Osteuropas, neuer Märkte in Übersee und vor
allem der Kolonien. Das vom Krieg nicht versehrte Gläubigerland benutzte
dafür die schon bis Herbst 1947 gesprochenen 1,17 Mrd. Fr.
(Währungs-)Kredite, damit im Gegenzug die Rückzahlung von Altforderungen
zugesagt wurde - Clearingschulden, Kredite, Internierungskosten und
Entschädigungsbegehren im Gesamtwert von 9,4 Mrd. Fr. (1947). Insbesondere
gegen die amerikanische Hegemonie richtete sich die Schweizer Weigerung,
eine Zahlungsbilanzstatistik zu erstellen, welche unter anderem die
Devisenflucht illustriert hätte.
Wenn die Schweiz auf Distanz zu Institutionen blieb, die von den USA
dominiert schienen (IMF, Gatt), so verweigerte sie sich nicht einer
Multilateralisierung des Zahlungsverkehrs. Der 1948 gegründeten Organisation
für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECE) trat sie ebenso bei
wie der Europäischen Zahlungsunion (EZU) von 1950, die auf der Basis der
Nichtdiskriminierung den Warenverkehr und möglichst auch die unsichtbaren
Transaktionen schrittweise zu liberalisieren bezweckte. Von der
Landwirtschaft und «militärpolitisch begründetem Heimatschutz» für
Saurer-Lastwagen abgesehen, baute die Schweiz Mengenbeschränkungen beim
Import rasch unter die in der OECE vereinbarten Werte ab. Mit der Gründung
der EWG (1957) und der freien Konvertibilität der westeuropäischen
Währungen (Anfang 1959) näherte sich die Schweiz doch dem Gatt an, um
Diskriminierungen durch die neuen Zollschranken in Europa zu begegnen. 1967
wurden im gebundenen Zahlungsverkehr noch 2,4 Prozent der Einfuhren und 4,2
Prozent der Ausfuhren beglichen, 1975 wurde das letzte Clearingabkommen (mit
der DDR) aufgehoben.
Innenpolitische Implikationen
Der gebundene Handelsverkehr provozierte zwingend interne Verteilungskämpfe
und Quotenregelungen - welche Branchen und Unternehmen durften am
beschränkten Aussenhandel teilhaben, und wie konnten die widerstreitenden
Interessen von Export- und Binnenwirtschaft, Finanzplatz oder Tourismus
ausgeglichen werden? Der in einem eigenen Beitrag von Thomas Gees erörterte
innere Ordnungsbedarf machte die intensive Mitarbeit der Wirtschaftsverbände
unabdingbar, die in der 1927 gegründeten Schweizerischen Zentrale für
Handelsförderung zusammengefasst waren, wobei der Vorort dominierte. Dessen
Direktor, Heinrich Homberger, sass mit seinem Studienkollegen Jean Hotz, dem
Direktor der Handelsabteilung des EVD, bis 1954 gemeinsam in 20
Wirtschaftsdelegationen - so während des Krieges in den spannungsreichen
Verhandlungen mit Deutschland und den Alliierten. In einer oft auf das
Aushandeln von Wirtschaftsverträgen reduzierten Aussenpolitik war die
Kooperation mit Verbänden die Regel: In den vierziger Jahren stellten sie
fast ein Drittel der Vertreter in Verhandlungsdelegationen, die Verwaltung
bloss die Hälfte, was einem koordinierten Auftritt nicht förderlich war. Mit
den Wirtschaftsartikeln von 1947 wurde dieser helvetische Korporativismus
durch die Verfassung anerkannt und manche strukturerhaltende Schutzmassnahme
später als Gebot der Kriegs- und Krisenvorsorge in die multilaterale Zeit
hinübergerettet.
Der vorliegende Sammelband vereint als Pionierwerk - leider ohne Index -
solide Forschungen auch zu konkreten bilateralen Handelskontakten mit
Partnern von Spanien über Israel bis Indien und Mexiko. Vorgeführt werden
Bedingungen und Konstanten der schweizerischen Aussenwirtschaftspolitik,
die etwa in der den Osten einschliessenden gesamteuropäischen Ausrichtung
einer Logik gehorchte, die mit anderen militärischen, innen- und
aussenpolitischen Positionsbezügen längere Zeit nicht übereinstimmte. Die
Herausgeber reden deshalb von einem «gestaffelten» Eintritt der Schweiz in
den Kalten Krieg; denkbar ist auch die Interpretation als ebenso
konstitutiver wie systematisch verkannter Widerspruch zwischen dem
ökonomischen Pragmatismus und dem zugleich prononciert politischen
Selbstverständnis der Schweizer.
Peter Hug, Martin Kloter (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang des
Bilateralismus. Schweizerische Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik
1930-1960. Rahmenbedingungen, Entscheidungsstrukturen, Fallstudien.
Chronos, Zürich 1999. 624 S., Fr. 68.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 09.06.2000 Nr. 133 17