Dieser Tagungsband zeigt, dass es entschieden an der Zeit ist, eine grosse Zahl an Ansätzen sozialgeschichtlich orientierter Radioforschung zu verknüpfen. Das Radio war in Europa sehr früh in nationale Strukturen eingebunden und zu patriotischen Aufgaben verpflichtet; es kann daher bei der Erforschung von nationalem Selbstverständnis weiterhelfen. Doch kann dies nur schwerlich erkannt und analysiert werden, wenn keine Vergleichsmöglichkeiten zur Beurteilung der gesellschaftlichen Relevanz des Rundfunks in den unterschiedlichen Ländern bestehen.
Abgesehen von methodischen Gründen ist für die Erforschung einer nationalen Radiorealität auch ein empirischer Blick in die Radiogeschichte anderer Länder unabdinglich. Radiowellen respektierten keine Landesgrenzen. Der Historiker, der sich mit der Thematik Radio befasst, muss beispielsweise über die Programminhalte aller in einem Gebiet empfangbaren Sender orientiert sein, wenn er beurteilen will, was es für einen Hörer bedeutete, der Sendestation des eigenen Landes treu zu bleiben.
Wenn heute Einstimmigkeit darüber herrscht, dass Radio nationale Identitäten beeinflusst habe und in dieser Funktion zu studieren sei, darf nicht vergessen werden, dass eine europäische Radiogeschichte differenzierte Hinweise zu einem europäischen oder regionalen, also nicht nur nationalen Bewusstsein liefern könnte.
Theo Mäusli: Ansage
Raffaello Ceschi: Domande alla storia della radio
Urs Frauchiger: Das Radio als kulturpolitischer Gradmesser und Motor
Kurt Imhof: Strukturwandel der Öffentlichkeitsforschung? Plädoyer für eine «öffentlichkeitsoffene» Rundfunkforschung
Theo Mäusli: Radio: nicht bloss eine Institution und ein Apparat, die Töne produzieren
Markus T. Drack: Das Projekt einer Geschichte der SRG
Edzard Schade: Radiogeschichte als Strukturgeschichte. Radio und Föderalismus in der Schweiz
Christian Brochand: La recherche sur l'histoire de la radio en France. Le retard de la France
Franco Monteleone: La situazione della storia della radio in Italia
Joachim-Felix Leonhard: Von gestern auf heute. Das Ende des Rundfunks in einem untergeganenen Staat und seine historische Überlieferung
Margaret Engeler: Die kulturelle Rolle der leichten Musik am Radio im Spannungsfeld der Perzeptionen von Musiker und Publikum
Carlo Piccardi: L'eterogeneità allo specchio.
La musica nel laboratorio della radiofonia
Reinhold Wagnleitner: Radio und Kalter Krieg: Die US-Radiopolitik und die Entwicklung des österreichischen Rundfunks zur Zeit der alliierten Besatzung 1945-1955
May B. Broda: Historikerinnen und Historiker vorm Fernseher
THEO MÄUSLI (HG.)
SCHALLWELLEN
ZUR SOZIALGESCHICHTE
DES RADIOS
CHRONOS, ZÜRICH 1996, 231 S., FR. 38.-
Die Schweizerische Landesphonothek organisiert jedes Jahr ein Kolloquium unter internationaler Beteiligung im Centro Stefano Franscini auf dem Monte Verità. Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Veranstaltung aus dem Jahre 1994. Ergänzt durch zwei weitere Aufsätze bildet er den ersten Teil einer intensiven Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung des Radios für die historische Forschung. Sie wurde im Frühjahr 1996 durch eine zweite Veranstaltung mit dem Titel «Radio im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Privat» fortgesetzt.
Eine erste Gruppe von Beiträgen setzt sich mit den Anfängen des Schweizer Rundfunks auseinander. Während Raffaello Ceschi unter einer sozialgeschichtlichen Fragestellung die Anfänge des Tessiner Senders und des Hörverhaltens beleuchtet, belegt Edzard Schade am Fallbeispiel Radio den Einfluss politischer Strukturen - Föderalismus und nationaler Konsens - auf die modernen Kommunikationsformen. Reinhold Wagenleitner äussert sich zur US-amerikanischen Radiopolitik in Österreich während der Besatzung der Alliierten. Sein Beitrag illustriert, dass es methodisch notwendig ist, nicht nur die rechtfertigenden Verlautbarungen gegenüber der Öffentlichkeit und die Programmkonzepte zu analysieren, sondern auch die einzelnen Radiosendungen in die Forschung mit einzubeziehen.
Verschiedene Beiträge, etwa der Aufsatz von Carlo Piccardi, heben die besondere Bedeutung der Musik für die Popularität des Radios und seine Rolle als Kulturvermittler hervor. Margaret Engeler zeigt am Beispiel des legendären Unterhaltungsorchesters Cedric Dumont, wie mit einer breiten Palette von Musikstilen versucht wird, auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine einheitliche Radiokultur aufrechtzuerhalten. Der Untergang des Orchesters Mitte der 60er Jahre spiegelt einerseits neue Hörgewohnheiten, andererseits ergibt er sich aus einer neuen Programmgestaltung.
Franco Monteleone und Christian Brochand skizzieren den Stand der Radioforschung in Italien beziehungsweise in Frankreich. Auf diesem Hintergrund lässt sich Markus T. Dracks Projekt der Geschichte der SRG besser einordnen. Währenddem er die Institution SRG, ihren politischen Auftrag und die Auswirkungen des sozialen Wandels auf die SRG in seinen Leitfragen in den Vordergrund stellt, entwickelt Theo Mäusli ausgehend vom Begriff der Öffentlichkeit seine mentalitätsgeschichtliche Frage, in welcher Weise das Radio auf Bildung und Geschmack, auf die Mentalität einwirkt. Auch Kurt Imhof hebt in seiner Konzeption der Rundfunkforschung den Strukturwandel der Öffentlichkeit hervor und fragt nach dem Beitrag und Stellenwert des Radios für diese Entwicklung.
Unabhängig von ihren unterschiedlichen Interessen und Herangehensweisen berichten die Autoren und Autorinnen von der schwierigen Quellensituation. Viele Tondokumente sind verlorengegangen, und die föderalistische Struktur der SRG erschwerte in der Vergangenheit den Zugang zu dem an verschiedenen Orten aufbewahrten Quellenmaterial. Obwohl die Sicherung und Erschliessung der Bestände noch nicht gelöst ist, ist die Situation - laut Markus T. Drack - hinsichtlich der Materialfülle gut. Ganz ähnliche Schlussfolgerungen ziehen die eingeladenen Gäste aus dem Ausland. Welche Probleme sich dabei ergeben, illustriert der Beitrag von Joachim-Felix Leonhard, der an der Übernahme und Eingliederung der ehemaligen DDR-Rundfunkanstalt und ihres Archivs in das deutsche Rundfunkarchiv beteiligt war.
Ausgehend von seinen eigenen Radioerfahrungen plädiert Urs Frauchiger für den Einbezug derjenigen, welche die Radiokultur effektiv gestalten und jenen, die sich die Sendungen anhören. So stellt er die Frage, inwieweit das Radio nicht nur als kulturpolitischer Gradmesser, sondern auch als Motor der Kulturproduktion gewirkt habe. May B. Broda sprengt den thematischen Rahmen des Radios. Sie denkt über die methodischen Schwierigkeiten nach, die sich aus der Beschäftigung mit Filmen und Fernsehsendungen ergeben. Ihre an Siegfried Kracauer orientierten Überlegungen über den kulturgeschichtlichen Aussagewert des Films sind auch für das Radio bedenkenswert.
Das Thema der Tagung kündigt ein ambitioniertes Vorhaben an: Zur Sozialgeschichte des Radios sollen sich die ReferentInnen äussern. Wie schwierig ein solches Unterfangen und wie weit die Schweizer Geschichtsschreibung davon entfernt ist, verdeutlicht die Lektüre der einzelnen Beiträge. Dessen sind sich auch die Initianten bewusst. Der Tagungsbericht bietet keinen in sich abgerundeten Vorschlag für eine Sozialgeschichte des Radios, sondern ein buntes Panorama unterschiedlichster Interessen am Radio und seiner Geschichte. Es ist ein Versuch, die aktuelle Forschung auf diesem Bereich untereinander zu verknüpfen und Querbezüge herzustellen. Darin besteht der Reiz und der Verdienst dieser Publikation. Gleichzeitig besteht genau darin ihre Schwäche, weil ein übergeordnetes Konzept, wie es der Titel suggeriert, nicht existiert.
Roger Sidler (Bern)
Traverse 1997/3 (154-156)