THEO MÄUSLI
JAZZ UND GEISTIGE
LANDESVERTEIDIGUNG
CHRONOS, ZÜRICH 1995, 234 S., 28 ABB., MIT MUSIKBEISPIELEN (AUF BEIGELEGTER CD), FR. 58.-
Erst jetzt, erstaunlich spät, wird der Jazz in der Schweiz ein Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen, jedoch nicht wie man erwarten sollte von seiten der Musikwissenschaft, sondern der Sozial- und Kulturgeschichte. Die interessanten Erkenntnisse von Theo Mäusli weisen weit über ihren zeitlichen Rahmen 1935-1945 hinaus, weil sich damals manches anbahnte und manifestierte, was heute immer noch Gültigkeit besitzt. Ein gut lesbares Buch, das längst nicht nur Historikern und Jazzspezialisten Gewinn bringt.
Anhand zweier unterschiedlicher Regionen (Genf und Basel) hat Mäusli die Rezeption der Jazzmusik als Kristallisationsfeld einer Mentalitätengeschichte der Jahre 1935-1945 gewählt. Dabei stützt er sich auch auf Interviews mit überlebenden Zeitgenossen und direkt Beteiligten. Neben Bilddokumenten bis zu Werbeinseraten und Karikaturen verleiht der Veröffentlichung die beigelegte CD mit Tonaufnahmen zusätzliches Gewicht, quasi eine «aural history», ergänzend zur oralen. Jazz ist ja primär eine improvisierte, nicht notierte Musik. Tondokumente haben darum erstrangige Bedeutung - ganz abgesehen davon, dass sie bei dieser Untersuchung auch weniger Informierte akustisch ins Bild setzen. Die Dokumente bestreichen das ganze Spektrum von «echten» Jazzaufnahmen z. B. mit Coleman Hawkins bis zum berühmten «Margritlilied» mit den Geschwistern Schmid.
Obschon schweizerische Jazzorchester in den 30er Jahren in Europa erstrangige Erfolge ernteten, hat die Schweizer Kulturgeschichte diesen Aspekt bisher ignoriert. Jazz verband sich für seine Freunde mit Vorstellungen von Internationalität und fortschrittlicher Aufgeschlossenheit; er erschien assoziiert mit mondänem Tourismus, dem Nachtleben der Kurorte und Weltstädte. Für die «Landi» kreierten Teddy Staufer und andere aber auch den swing-beeinflussten Dialektschlager, während sich die Westschweizer mehr der Pariser Jazzauffassung anschlossen. Trotzdem war Jazzmusik eine Aussenseiterin und stiess auf die Opposition konservativ-bürgerlicher wie bäuerlicher Kreise.
Die politischen Entwicklungen der 30er Jahre förderten den latenten Eurozentrismus und auch den schweizerischen Isolationismus. Da erwies sich der als Tanz- und Unterhaltungsmusik grosse Publizität geniessende Jazz als geeignetes Streitobjekt: das Neue, Fremde und Städtische wurde als unschweizerisch denunziert, als eine Untergrabung des nationalen Selbstbehauptungswillens. Jazzrezeption also als historischer Gradmesser einer heiklen Zeit zwischen jugendlich unbeschwerter Offenheit und ängstlicher Anpassung und Abgrenzung. Dies um so mehr, als Jazz ein ebenso offener Begriff ist wie «geistige Landesverteidigung» ein schwammiger. Darum konnten sich an beiden allerlei Mentalitäten manifestieren und abreagieren.
Dem Autor gelingt es, die teilweise vagen und verschlungenen Momente der Thematik zu lokalisieren und entflechten, ohne in Pauschalisierungen zu verfallen. Immerhin wird aber deutlich, dass sich viele Schweizer mentalitätsmässig doch in unmittelbarer Nachbarschaft zum Nazismus befanden, so sehr sie diesen vielleicht ablehnen mochten. Die braune Ideologie verunglimpfte den Jazz als eine negrisch-jüdische Bedrohung der völkischen Kultur. Als eine «entartete» Musik war er offiziell verboten. Das blieb - besonders in der benachbarten Deutschschweiz - nicht ohne Einfluss. Empfand die ältere Generation die dreiste Heiterkeit des Jazz als Pietätlosigkeit in einer tragischen Zeit, so war man bald auch bemüht, den mächtigen Nachbarn nicht zu provozieren.
Die grosse Jazzdiskussion reichte bis ins Parlament hinein, rund um die Musikprogramme der Landessender, die in den Kriegsjahren zum wichtigsten Medium der nationalen Selbstdarstellung wurden. Weil es die moderne Unterhaltung auf einheimischen Wellen nicht finden konnte, hörte sie das Publikum bei fremden Sendern - samt der politischen Propaganda. Die Diskussion begann 1935 rund um die «demi-heure de jazz» bei Radio Sottens. Während deutschschweizer Offizielle - angeführt vom SRG-Generaldirektor - bereitwillig Selbstzensur übten und 1940 sogar ein Jazzverbot akzeptierten, verteidigte der Genfer Radiodirektor Pommier den Jazz als eine Aufmunterung für junge Bürger und Soldaten: «Il faut rire quand-même.» Der Streit fand Ausdruck in handfesten Hörerbriefen, die Mäusli ausgiebig zitiert. Aber auch Verbände und Parteien taten mit. Rassistische Töne waren durchaus üblich - solange sie nicht nazistisch wirkten (aber einige Eiferer schreckten auch vor Anleihen bei der Naziterminologie nicht zurück). Jazz galt darum besonders in der Deutschschweiz «nur» als Musik von degenerierten Negern und Schwachsinnigen, nicht jedoch - wie beim nördlichen Nachbarn - auch der Juden. Mäusli stellt hier eine Fortsetzung und Erweiterung des üblichen kolonialistischen Afrikabilds aus dem 19. Jahrhundert fest. Jazzanhänger fanden den rassischen Aspekt entweder unerheblich oder verehrten den schwarzen Musiker als genialischem «Edlen Wilden», ein umgekehrt rassistisches Bild, das die europäische Jazzrezeption seit jeher begleitet.
In den brisanten Kriegsjahren bedienten verschiedene Kreise den Begriff der geistigen Landesverteidigung für ihre Zwecke. Dem Bildungsbürger lag an einer Verteidigung abendländischer Werte, dem Kleinbürger ging's um (Arbeits-) Moral und Disziplin, bäuerlich-ländlichen Kreisen um die Abwehr des städtischen Einflusses, Populisten polemisierten gegen den Einfluss der Moderne und des Intellektualismus und gegen Kriegsende störte der wachsende Einfluss der amerikanischen Populärkultur.
Mäuslis Studie bestätigt, dass die Anhänger und Träger des «wirklichen» Jazz grösstenteils zur Jugend der Oberschicht gehörten, die sich mit dieser aufwendigen Beschäftigung als Kenner, Plattensammler und Amateurmusiker von den unteren Schichten absetzen wollte. «Hot Jazz» war anders und trotzdem (im Vergleich zu moderner Klassik) relativ einfach. Gleichzeitig interpretierte man Jazz als Verkörperung der modernen (amerikanischen) Werte: Dynamik, Lebensenergie, Optimismus, Unverblümtheit, Spontaneität und Durchsetzungsvermögen. Mäusli vermutet hier eine Wurzel der heutigen Jugendkultur, denn diese soziale Gruppe hatte bereits das nötige Taschengeld, um sich ihre eigenen speziellen Wünsche zu erfüllen. Und die Werbung hatte den Jazz schon als Symbolträger des modernen Konsums entdeckt - ein weiteres der Missverständnisse, die den Weg dieser Musik begleiten.
Als Protest gegen die Elterngeneration diente der Jazz aber noch nicht. Die Rebellion der damaligen Jazzfans richtete sich vielmehr gegen den Faschismus. Die Identifikation mit Jazz wurde von Eltern der Oberklasse aus diesen Gründen sogar begrüsst, wogegen Arbeitersöhne, die Jazzmusik als Existenz wählten, häufig in ihrem Umfeld als Tagediebe in Verruf gerieten. Die bürgerliche Vereinnahmung setzte schnell ein. Die neuen Tanzveranstaltungen mit Jazz ermöglichten ja zum ersten Mal individuell-offene Tanzweisen. Doch man vermied geschickt, dass sich ihr klassensprengendes Potential entfalten konnte. Die Jazztänze wurden standardisiert und in relativ exklusiven Tanzschulen und bei geschlossenen Veranstaltungen (z. B. der Studenten) gepflegt.
Für seine Untersuchung hat Mäusli zweckmässigerweise den Jazzbegriff viel weiter gefasst als die Musikspezialisten - so umfassend, wie er damals gehandhabt wurde. Viele der extremen Äusserungen gegen Jazz stammten gerade aus dem Rand- oder Nachbargebiet, das seine Stimme in der «Musiker-Revue» hatte. Der Geschmackswandel erzeugte eine Konkurrenzsituation und verschärfte den Druck, dem sich die Berufsgruppe der Unterhaltungsmusiker durch technische, soziale und stilistische Veränderungen ausgesetzt sah. Für jazzartige Musik bestand in öffentlichen Lokalen schon seit den 20er Jahren eine Nachfrage. Mit dem nunmehr opportunen Argument der nationalen Kulturbewahrung zog man in den 30er Jahren erst gegen die Ausländer (v. a. Schwarze) und dann gegen die wachsende Zahl der Jazzamateure los. Denn deren Verdienstchancen wuchsen mit der kriegsbedingten Schliessung der Grenzen massiv, so dass später vom Goldenen Zeitalter des Schweizer Jazz die Rede war. In ihrem fruchtlosen Abwehrkampf trafen sich die «Ensemblemusiker» mit den bäuerlich-ländlichen Kreisen.
Jürg Solothurnmann (Bern)
Traverse 1996/3 (188-190)
«Sozialgeschichte, die fesselt»
Basler Zeitung
«Theo Mäuslis Buch bereichert die Historiographie zu jenen Jahren, indem es gerade die Widersprüchlichkeit der sich Luft machenden Geisteshaltungen aufzeigt.»
Der Bund