«Die Darstellung der Schweizer Außenpolitik zwischen respektablem Schein und weniger feinen Realinteressen ist die Stärke des Buches.»
«Die Neutralität war eine zwar oft angerufene, aber letztlich von den realen Machtverhältnissen vergewaltigte und entfremdete Leerformel.» Anders als zeitgenössische Debatten und die bisherige Geschichtsschreibung sieht Hans Ulrich Jost in der Neutralität der Schweiz nicht mehr den zentralen Referenzpunkt, von dem aus das Geschehen der Jahre 1938-1948 zu beurteilen ist.
Weder für die Achsenmächte noch für die Alliierten war die schweizerische Neutralität massgebend, es zählte die Bilanz der praktischen Leistungen: Handel, Finanzgeschäfte, Nachrichtenbörse, Interessenvertretung, Betreuungsaufgaben, die zentrale Lage.
In der schweizerischen Politik diente das Neutralitätsprinzip als taktische Rhetorik bei den Wirtschaftsverhandlungen sowie der Legitimation der Regierung, in den ersten Nachkriegsjahren vor allem der Verneinung jeglicher Verantwortung in Bezug auf den Krieg. Nicht der menschlichen und moralischen Tragik des Kriegs galt die Hauptsorge der offiziellen Schweiz, sondern der optimalen Erhaltung einer auf Privatbesitz beruhenden, hochentwickelten Volkswirtschaft.
Auch die vielbeschworene Volksgemeinschaft gegen die Bedrohung des Nazionalsozialismus, gegründet auf hohen ethnischen Werten, löst sich bei näherer Betrachtung des gesellschaftlichen und kulturellen Alltags rasch in widersprüchlichste Facetten auf. Entgegen der offiziellen Wunschpropaganda war die Kriegsgesellschaft von Klassenkonflikten durchzogen. Autoritäres und elitäres Denken führte in eine Kabinettspolitik.
In sieben Kapiteln veranschaulicht der Autor «Strukturlinien und Entwicklungen», den «Aufmarsch zum Krieg» 1938-1939, die «Verdrehungen und Verwirrungen» von 1940, «Kriegswirtschaft, Vollbeschäftgung und neue Ordnung» 1940-1943, das «Kriegsende: äusserer Druck, innere Krisen, Isolation» 1944-1946, die «Anpassung an die atlantische Perspektive» 1948 sowie die «Geschichte des Zweiten Weltkriegs in der politischen Strategie der Nachkriegszeit».
«Die Darstellung der Schweizer Außenpolitik zwischen respektablem Schein und weniger feinen Realinteressen ist die Stärke des Buches.»
Aussenhandel und Innenpolitik
Die Schweiz in der Übergangszeit von 1938 bis 1948
Das jüngste Buch über die Schweiz im «Zweiten Weltkrieg» legt einleuchtend
dar, inwiefern die Jahre nicht von 1939 bis 1945, sondern von 1938 bis 1948
als eigener Zeitabschnitt verstanden werden sollen, als Scharnierzeit
zwischen der vorangegangenen Krisenphase und den nachfolgenden Jahren der
Hochkonjunktur. Die Darstellung von Hans Ulrich Jost will aber mehr: Sie
will die Wirtschaft anstelle der Neutralität zum zentralen Referenzpunkt der
historischen Analyse machen. «Die Hauptsorge der offiziellen Schweiz galt
auch nicht dem Krieg und seiner menschlichen und moralischen Tragik,
sondern der optimalen Erhaltung einer auf Privatbesitz beruhenden,
hochentwickelten Volkswirtschaft.»
Primat der Wirtschaft
Ausser von den Wirtschaftsinteressen sieht der Verfasser die damalige
Gesellschaft von weiteren Strukturelementen geprägt. Die meisten sind
negativer Natur: die Militarisierung der Gesellschaft, das
Demokratiedefizit, die emanzipationsfeindliche Haltung gegenüber den
Frauen. Die einzige positive Entwicklungslinie sieht der Verfasser im
Aufbau der kollektiven sozialen Verantwortung, wie sie sich in der
Lohnersatzordnung, in den Gesamtarbeitsverträgen, in der AHV manifestierte.
Die Jahre von 1938 bis 1948 seien darum auch in sozialer Hinsicht eine
Transitionsphase zwischen einer Zeit virulenter Konflikte und einer Zeit der
Konkordanz.
Wo liegt nun nach Auffassung des Verfassers die Verbindung zwischen «Politik
und Wirtschaft»? Die internationale Entwicklung und die Bedürfnisse der
Handelspolitik hätten sich in den politischen Aktivitäten direkt
widerspiegelt. Solange die Achsenmächte dominierten, habe sich die Mehrheit
der politischen Strategen an der Neuen Ordnung Europas orientiert. Die etwas
mechanistische und mit der wiederkehrenden Metapher der «zentralen
Leitplanken» gestützte Parallelisierung hält es für «bezeichnend», dass die
Asylpolitik genau in jenen Monaten versagte, als der Aussenhandel und die
deutschen Goldlieferungen Höchstwerte verzeichneten.
Rechtsextreme Positionen im Fokus
Paradoxerweise nehmen die politischen Haltungen in diesem Buch mehr
Aufmerksamkeit in Anspruch als das für äusserst wichtig erklärte
wirtschaftliche Handeln. Der Verfasser will nachweisen, dass der
Bürgerblock mit rechtsextremen Antidemokraten angebändelt habe oder diese
wenigstens habe gewähren lassen. Der Fokus liegt ganz auf dem rechten Flügel
der bürgerlichen Kräfte (mit Philipp Etter, Gonzague de Reynold, Eugen
Bircher, Robert Eibel usw.). Die Linksbürgerlichen der damaligen
Verhältnisse (etwa NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher) werden weitgehend
ausgeklammert. Immerhin erhält der freisinnige Solothurner Bundesrat
Hermann Obrecht wegen seiner «geradlinig liberalen Haltung» mehrfach gute
Noten. Gemäss Jost hat die äussere Rechte zum Sturm auf die schweizerische
Gesellschaft angesetzt und dabei auch gewisse Erfolge erzielt. Ersteres ist
einigermassen bekannt und belegbar, letzteres dagegen ist bisher weniger so
gesehen worden und wird im vorliegenden Buch nicht überzeugend nachgewiesen.
Die ohne weitere Präzisierungen auskommende Formel lautet, es habe eine
«schleichende Erosion» oder sogar eine «tiefgreifende Zersetzung» der
politischen Kultur stattgefunden. Dass dies aber ohne grössere Konsequenzen
blieb, erklärt Jost zunächst mit zwei scheinbar sekundären Gründen: mit der
«traditionellen Trägheit des politischen Systems» sowie einem gewissen von
Sozialdemokraten und demokratischen Kräften des Bürgertums genährten
Widerstandsgeist im Volk; entscheidend sei aber die aus dem Arrangement mit
der Achse gewonnene reelle materielle Perspektive gewesen.
Charakteristische Unschärfen finden sich auch in den Ausführungen über die
Linke. Jost bringt gegenüber der äusseren Linken lange nicht die gleiche
Aufmerksamkeit auf wie gegenüber der äusseren Rechten. Die Kommunisten
werden zuweilen sogar recht eigentlich ausgeblendet. So kann Jost das
Paradox konstruieren, dass die SP (die in Wirklichkeit die
Staatsschutztätigkeit weitgehend unterstützte) «in erster Linie» das Opfer
der Bundespolizei geworden sei, obwohl sie im Krieg mehr Staatstreue als das
bürgerliche Lager bewiesen habe. Auch die Sozialdemokraten, zum Teil sogar
als Notabeln apostrophiert, werden etwas kritisiert als Gruppe, die sich
insgesamt (zu) «zurückhaltend» verhalten und zum Beispiel nach Pilets
Frontistenempfang vom September 1940 mit bloss «moderater Kritik» begnügt
habe. Im kurzen Abschnitt «Erneuern und Anpassen» finden sich zwar
hochinteressante, im September 1940 vor der nationalrätlichen
Vollmachtenkommission präsentierte Neuformulierungen der künftigen Politik
des Bundesrates, findet sich aber keine weitere Auslotung der komplexen
Problematik der sogenannten «Neuorientierung».
Die Gewerkschaften, immerhin ein wichtiges Bindeglied zwischen Politik und
Wirtschaft, treten in dieser Darstellung ebenfalls nur am Rande in
Erscheinung. Man erfährt nicht, wie sie sich zum blühenden Aussenhandel
stellten; auf die Innen- und Finanzpolitik bezogen heisst es zwar, der SMUV
habe nicht nur der SPS den Rücken zugewandt, sondern mit seiner «manchmal
geradezu reaktionären Politik» die Arbeit des Schweizerischen
Gewerkschaftsbundes gelähmt.
Wo sind die sechs Kriegsjahre?
Auch in diesem Werk ist etwa die Hälfte der Ausführungen dem Jahr 1940
gewidmet, es besteht also weiterhin ein beträchtliches Ungleichgewicht im
Verhältnis zur übrigen Kriegszeit, die immerhin sechs Jahre gedauert hat.
Die Jahre 1941 bis 1943 verdienten als Wendezeit innerhalb der Übergangszeit
sicher eine besondere Aufmerksamkeit. Zum Kriegsende werden die
Ausführungen wieder etwas dichter. Bezogen auf den zunehmenden Druck der
Westmächte gegen Ende 1944 schreibt Hans Ulrich Jost: «In gewissem Sinne
begann für die Schweiz erst jetzt der Krieg.» Die Wirtschaftsverhandlungen
mit den Westmächten charakterisiert er als «Nahkampf»; die schwierigen
Verhandlungen mit den Achsenmächten in den Jahren 1940/41 dagegen kommen
merkwürdigerweise nicht in den Genuss solch dramatisierender Umschreibung.
Selektives
Das Buch hat, wie die meisten, Stärken und Schwächen. Eine Hauptschwäche
liegt im Format und in der Mischung der Gattungen; das Buch ist gleichzeitig
ein Thesenbuch und eine umfassende Gesamtdarstellung. Als ersteres ist es
aber zu lang und als letzteres zu kurz. Bei einer Darstellung dieser Länge
und insbesondere dieser Thematik erstaunt es, dass nicht auf die Frage
eingegangen wird, inwiefern dank der Besteuerung der Aussenhandelsgewinne
ein Teil der ausserordentlichen Verteidigungsausgaben finanziert werden
konnte. Als grosse Kriegsgewinnler erscheinen die Bauern mit über 40 Prozent
Gewinnzuwachs, die sogenannten Unternehmen weisen dagegen für die Jahre
1938-1941 nur 5 oder 6 Prozent aus, dann aber einen Rückgang des Gewinns,
der schon 1941 unter das Niveau von 1938 sinkt und 1944 (etwa -10 Prozent)
seinen Tiefpunkt hat. Im übrigen muss man sich aber mit der Bemerkung
zufrieden geben, dass eine sektorielle Identifikation von Gewinnen und
Verlusten erst noch geleistet werden müsse.
Kritisch ist insbesondere eine gewisse Ungleichheit der Interessen für
Zahlen anzumerken. Es liegt in der Logik des Buches, wenn es
herausstreicht, dass «Heer und Haus» jährlich die «stattliche Summe» von
250 000 Franken zur Verfügung stand (und auch zur propagandistischen
Imagepflege des Generals verwendet worden sei) und andererseits aber Zahlen
über Erträge der Kriegsgewinn- und der Wehrsteuer sowie der «Wehropfer»- und
der zweimaligen Vermögensabgabe nicht zu finden sind. Letztere erbrachte
immerhin über 600 Millionen Franken. Zur Kriegsgewinnsteuer wird dagegen
gerne festgehalten, dass sie offenbar nicht sehr wirkungsvoll angewandt
und mittels grosser Abschreibungen umgangen worden sei.
Fragmentierte Geschichte
Die stärkste Leistung dieses anregenden und vielleicht auch aufregenden
Buches besteht in dem schon im Mai 1997 an der ETH präsentierten,
inzwischen aber weitergediehenen Vorschlag, im Vergangenheitsdiskurs vier
Felder zu unterscheiden und diese je mit spezifischen Erkenntnisinteressen
der Nachkriegszeit in Verbindung zu bringen: 1. das Feld der von
Armee/Volk/General getragenen Landesverteidigung, 2. das Feld der von
Bundesrat/Parteien/Bewegungen nach der Formel von «Anpassung oder
Widerstand» betriebenen Politik, 3. das Feld
«Aussenwirtschaft/Kriegswirtschaft/innere Ordnung» und 4. das Feld
«Frauen/Alltag/Kultur». Jost legt nachvollziehbar dar, dass die ersten
beiden Felder bisher überbeachtet, das dritte Feld jedoch, weil kein
Interesse an einer entsprechenden Erhellung bestand, bisher vernachlässigt
worden sei, obwohl in diesem Bereich die «Entscheidungsleistungen» erbracht
worden seien, «die eine Überwindung der Wirtschaftskrise der dreissiger
Jahre und eine optimale Weiterführung der wirtschaftlichen Produktivität in
den international rasch wechselnden Konstellationen der Kriegs- und
Nachkriegszeit erlaubten». An die Adresse von Edgar Bonjour und seinen
Zeitgenossen ist die Bemerkung gerichtet, dass das Einblenden der
Neutralitätsproblematik (bzw. ihre starke historiographische Privilegierung)
im Dienste einer Ausblendung der Aussenhandelsproblematik gestanden habe.
Hans Ulrich Jost beanstandet zu Recht, dass mit der Segmentierung der
Geschichte die einzelnen Teilgeschichten für unterschiedliche
Verwertungsprozesse gleichsam gefügig gemacht würden. Die Leser müssen sich
fragen, welchem Interesse die hier zusammengestellte Teilgeschichte dienen
soll. Auf das von ihm am Schluss geforderte Erklärungsmodell über die
möglichen Interdependenzen und Divergenzen der verschiedenen historischen
Felder ist man bei der vorangegangenen Lektüre nicht gestossen. Selbst der
Zusammenhang innerhalb des dritten Feldes zwischen Aussenwirtschaft und
Innenpolitik bedürfte, wie gesagt, noch der Klärung. Jost ist in Anerkennung
der überragenden Wichtigkeit des dritten Feldes auch nicht zum
Wirtschaftshistoriker geworden, für ihn steht noch immer die Politik- und
Kulturgeschichte im Zentrum. Sein moralisches Verdikt lautet: «Unfähig, die
eigene Verantwortung in der kollektiven Katastrophe zu erkennen, knüpfte die
Schweiz am Ende des Krieges unreflektiert an die Vorkriegszeit an.»