Bürgerliche Öffentlichkeit und spätabsolutistischer Staat
Sozietätenbewegung und Konfliktkonjunktur in Zürich 1746–1780
Broschur
1993. 256 Seiten
ISBN 978-3-905311-13-6
CHF 42.00 / EUR 23.50 
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Durch das verstärkte Interesse an der Sozialgeschichte des Aufklärungszeitalters sind die Gesellschaften verschiedenster Schattierungen ins Blickfeld der Forschung gerückt. Die Selbstorganisation des bürgerlichen Publikums und die sich konstituierende bürgerliche Öffentlichkeit stellen innerhalb der ständisch-korporativ verfassten alten Welt ein Novum dar. In den Sozietäten des 18. Jahrhunderts bilden sich neue Verkehrs- und Interaktionsformen, neue Verhaltens- und Wertmuster heraus; sie tragen darum wesentlich zur Entstehung eines bürgerlichen Sozialcharakters bei. Als Experimentierfelder für demokratisches Verhalten sind sie gleichsam Inseln der Zukunft.
Die vorliegende Studie befasst sich nicht nur mit den Aktivitäten und der Mitgliederstruktur der einzelnen Assoziationen, sondern stellt ihre Wirksamkeit in den Zusammenhang der Zürcher Geschichte des ausgehenden Ancien régime. Die durch die Aufklärungsbewegung ausgelösten Reformdiskussionen und -versuche haben nämlich ambivalenten Charakter. Einerseits sollen sie dem spätabsolutistischen Herrschaftssystem zu einer erneuten Stabilisierung verhelfen, andrerseits sind sie Ausgangspunkt für protodemokratische Strömungen, welche bereits vorrevolutionäre Züge aufweisen. Der in den verschiedenen Gesellschaften geführte staatstheoretische Diskurs ist Ursache für eine Politisierung des bürgerlichen Publikums, die schliesslich in einer Reihe von soziopolitischen Konflikten ihren Niederschlag findet.
In die Auseinandersetzungen sind vor allem junge Leute involviert, die Aufklärungsbewegung wird damit zu einer politischen Jugendbewegung. In vielfältig vernetzten Geheimgesellschaften und Diskurskreisen artikuliert sich eine Gegenöffentlichkeit, und die Zirkel bilden die Basis einer Aufklärung von unten. Die radikalen Aufklärer wollen nicht nur Oberflächenkosmetik und Scheinreformen, sondern grundsätzliche Veränderungen sehen. Das führt zum Konflikt mit der Regierung. Die dadurch ausgelöste Herrschaftskrise kann nur durch repressive und reformerische Einkreisung der autonomen Bewegung vermieden werden.

ist emeritierter Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich. Seine Hauptforschungsgebiete sind Sozialgeschichte der Aufklärung, historische Protestforschung und Demokratieforschung. Er hat 2013 eine kommentierte Quellenauswahl zur Demokratiegeschichte der Schweiz veröffentlicht.


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ROLF GRABER BÜRGERLICHE ÖFFENTLICHKEIT UND SPÄTABSOLUTISTISCHER STAAT SOZIETÄTENBEWEGUNG UND KONFLIKTKONJUNKTUR IN ZÜRICH 1746-1780 CHRONOS VERLAG, ZÜRICH 1993, 258 S., FR. 42.- Mit seiner Dissertation legt Rolf Graber eine sowohl qualitative wie quantitative Analyse der Sozietätenbewegung der Stadt Zürich im Ancien Régime vor. Ziel ist es, in Anlehnung an die entwicklungsgeschichtlichen Theoreme von Jürgen Habermas und Reinhart Koselleck, eine Struktur- und Organisationsanalyse der städtischen Aufklärungsgesellschaften in den Formierungsprozess bürgerlicher Öffentlichkeit einzubinden. Darüber hinaus fragt Graber auch nach der Wirkungsmächtigkeit dieser Gesellschaften im spätabsolutistischen Herrschaftssystem. Im ersten Teil seiner Arbeit erstellt der Autor aufgrund eigener Erhebungen eine an dem Soziologen Ernst Manheim orientierte Typologie von Sozietäten sowohl nach kollektivbiographischen als auch programmatischen Gesichtspunkten. Dabei zeichnet sich eine unterschiedliche «ideologische Ausrichtung» innerhalb der Aufklärungsbewegung ab. Hier setzt Graber nun an, um die von ihm konstatierte Ambivalenz, den «doppelten Charakter» der Aufklärung zu verorten. So unterscheidet er in Gestalt der «Physikalischen Gesellschaft» ein reformistisch orientiertes aufgeklärtes Handels- und Bildungsbürgertum, das Aufklärungspostulate nur insoweit rezipiert und propagiert, als sie seine Bedürfnisse nach partiellen Reformen im Agrar-, Verwaltungs- und Erziehungsbereich legitimieren. Der Erneuerungsdiskurs entwickelt aber zwangsläufig eine Eigendynamik, die über die Intentionen der Gesellschaftsgründer hinausweist. Unter dem Einfluss der Naturrechtslehre schlagen die Reformdiskussionen in politische Kritik um und bringen radikalaufklärerische Positionen hervor. Dies geschieht in Gestalt der «politischen Jugendbewegung», in deren Zentrum die «Historische Gesellschaft am Bach» und die «Helvetisch-vaterländische Gesellschaft der Gerwi» stehen. Mehrheitlich Söhne der städtischen Oberschicht, aber erstmalig auch Angehörige der Mittelschichten, besonders Pfarramtskandidaten, vertreten hier sehr viel weitergehende Reformziele und greifen das ständische System als solches an. Somit stehen sich - im Zeichen eines Generationenkonflikts - zwei gegensätzliche programmatische Konzeptionen von «Patriotismus» gegenüber: einerseits der «ökonomische Patriotismus», dessen gemässigter Reformkurs systemimmanent ausgerichtet ist und damit massgeblich zur erneuten Stabilisierung des bestehenden Herrschaftssystems beiträgt. Andererseits der das Gesamtsystem negierende «politische Patriotismus» der jüngeren Generation mit protodemokratischen Zügen, in dessen Umfeld sich eine Gegenöffentlichkeit mit eigener Infrastruktur in Form von Geheimgesellschaften entwickelt. Sie werden in der Folge die eigentlichen Zentren direkter politischer Aktionen. Die daraus hervorgehenden politischen Unruhen in den Jahren von 1760 bis 1780 sind Gegenstand des zweiten Teils der Arbeit. Anhand von fünf Beispielen werden unter Verwendung reichen Quellenmaterials Konfliktfelder, Protestformen und ihre Auswirkungen untersucht. Dabei entwirft Graber das Bild einer «Konfliktkonjunktur», einer Wellenbewegung von Perioden manifester und latenter Konflikte, die in engster Verknüpfung mit dem Krisenverhalten der Führungseliten - einer Mischung aus integrativen und repressiven Massnahmen - gesehen werden muss. Durch die zweigleisige Strategie, die gemässigten Kräfte durch Integrations- und Aufstiegsofferten einzubinden, den radikalen Teil aber durch Stigmatisierung und Kriminalisierung auszugrenzen, gelingt es der Regierung, die radikale Oppositionsfront sukzessive aufzuspalten und zu paralysieren. In den Auseinandersetzungen der 1760er Jahre sind es zunächst die Söhne der bürgerlichen Oberschicht, die sich eingedenk ihrer Karriere vom Radikalismus distanzieren und der ökonomischen Variante des Patriotismus annähern. Wenig später - anlässlich der Zunftunruhen im Jahre 1777 als Höhe- und Endpunkt der aufklärerischen Protestbewegung - gilt dies auch für die politischen Patrioten der bürgerlichen Mittelschicht. Angesichts einer erstmals breite Bevölkerungsschichten umfassenden Aufklärungsbewegung von unten folgen auch sie den Integrationsangeboten der Obrigkeit. Damit wird eine konservative Restabilisierungsphase eingeleitet, in der das Schicksal des 1780 hingerichteten Landpfarrers Johann Heinrich Waser den endgültigen Bruch der Aufklärung von unten und der Konzeption einer Aufklärung von oben widerspiegelt. Wasers Bemühungen um die Belange der Landschaft provozieren die nahezu geschlossene Ablehnung der nun auf Kooperation und Einbindung ausgerichteten Patrioten. Ist die Stadt damit zunächst befriedet, bleibt - so der Ausblick - die Eigendynamik der Aufklärung ungebrochen, denn mit zeitlicher Verzögerung ergreift der Reformdiskurs in den 1790er Jahren die ländlichen Gebiete und schafft hier «präjakobinische» Verhaltensweisen. Graber ist insgesamt eine überzeugende, wenngleich stellenweise terminologieüberfrachtete, Synthese von Sozietäten- und Konfliktanalyse gelungen. Er liefert damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zu einer Sozialgeschichte des Aufklärungszeitalters, sondern bietet mit der Untersuchung der erfolgreichen elitären Konfliktregelung auch Einblicke in die ambivalente Beziehung bürgerlicher Öffentlichkeit zum spätabsolutistischen Staat. Barbara Weinmann (Berlin) Traverse 1994/2 (166-167)