Gratgänge von der Kriegs- zur Nachkriegszeit
«Diplomatische Dokumente der Schweiz», 1941-1947
Mit Band 14 ist die erste Serie der «Diplomatischen Dokumente» mit
zweijähriger Verspätung abgeschlossen, mit Band 16 die neue eröffnet
worden. Sie decken die zentralen Kriegsjahre 1941 bis Herbst 1943 sowie die
unmittelbare Nachkriegszeit bis Mai 1947 ab und ermöglichen differenzierte
Einblicke in diese gegenwärtig umstrittene Epoche.
«[. . .] je suis étonné de constater qu'en Amérique, on ne semble pas
comprendre la situation de la Suisse [. . .]» Die Bemerkung General Henri
Guisans zu Bundespräsident Wetter, verfasst im Sommer 1941, ist von einiger
Aktualität, ebenso die Vorschläge, wie die komplexe Lage der
Eidgenossenschaft den Amerikanern vermittelt werden könnte. Guisan denkt an
einen Sonderemissär, der SP-Nationalrat Reinhard will 1942 die Propaganda
in den USA verstärken, und Botschafter Bruggmann schlägt 1945 einen
Presseagenten in New York vor. Mit dem amerikanischen Unverständnis
kontrastiert der britische Pragmatismus: Aussenminister Edens Anerkennung
für die politische und moralische Unabhängigkeit der Schweiz wird noch
übertroffen von Churchills Liebesbekundungen zum «besten Land auf dem
Kontinent» und seiner Bewunderung für das Reduit und den Wehrwillen: «You
would have fought, and how!»
Wirtschaftsverhandlungen und Kredit
Die «Diplomatischen Dokumente der Schweiz» («DDS») enthalten reichlich
Material für Kritiker und für Apologeten unseres Landes, und gerade diese
Vielfalt ermöglicht ein differenziertes Bild von Leistungen und Versagen -
wenn man sich die Zeit nimmt, um die Quellen zu studieren. Während Guisan
Ende 1942, nach der Besetzung Restfrankreichs, zusätzliche Aufgebote
erlassen will, denkt der Bundesrat, dass «Materiallieferungen» und der
Zugang zur «Schweizerwährung» das Dritte Reich von Invasionsplänen
weitgehend abhalten. Die in den Wirtschaftsverhandlungen vom Sommer 1942
vergleichsweise konziliante Haltung der Deutschen wird auf eine Intervention
des Wehrmacht-Generalstabs zurückgeführt: «Nos délégués [. . .] avaient le
sentiment que, de très haut, un mot d'ordre avait été transmis aux services
compétents allemands, selon lequel il ne fallait à aucun prix se brouiller
avec nous.»
Die Engländer bedauern im April 1943, dass die Schweiz von sich aus nichts
unternehme, um die Exporte an die Achse zu reduzieren: «Es sei massgebenden
britischen Behörden einfach nicht verständlich, dass die Schweiz bei der
heutigen Weltkatastrophe, wo alle Völker viel aufgeben müssten, in so
ausgesprochener Weise vorwiegend auf ihre Exportinteressen bedacht sei,
indem sicherlich andere Wege zur Beschäftigung unserer Bevölkerung
offenstehen würden.» Nicht unähnlich haben früher die Deutschen der
Schweizer Verhandlungsdelegation vorgeworfen, sie sehe «die Probleme als zu
kommerziell und zu wenig europäisch».
Allerdings hat der Bund im Juli 1941 die zinslosen Kredite für das Dritte
Reich auf 850 Millionen Franken erhöht, obwohl dies kommerziell wenig
verspricht, wie Nationalrat Hans Oprecht festhält: «Gewinnt Deutschland den
Krieg, dann endet die Schweiz als Reichsprotektorat; verliert es ihn, so
werden die Sieger bestimmt nicht seine Schulden begleichen.» Gegen ähnliche,
öffentlich geäusserte Bedenken interveniert der Vorort bei Bundesrat von
Steiger, weil man etwa den «Clearingkredit als eine Art gerechtfertigten
Kaufpreis für die Erhaltung des Friedens und die Bewahrung vor
Arbeitslosigkeit» betrachte. Die Deutung des Kredits als «Zwangsgeschenk»
stelle die Neutralität in Frage, «wobei die bedeutenden deutschen
Gegenleistungen, die erst durch diese Kreditgarantie erhältlich gemacht
werden konnten, gänzlich ausser acht gelassen werden, obschon sie für das
Durchhalten der Schweiz von entscheidender Bedeutung sind».
Fiktive und praktizierte Neutralität
Vor allem wegen der wirtschaftlichen Leistungen für Deutschland kommt der
Genfer Völkerrechtler und Nationalrat William Rappard im September 1942 zum
Schluss, dass die Neutralität fiktiv sei. Statt sich stets auf die
Souveränität zu berufen, solle die Regierung ihr Wirken allein mit der
Notlage rechtfertigen.
«La contrainte politique et stratégique qui pèse sur nous est, à vrai dire,
la seule explication et la seule excuse de notre attitude. Mais l'avouer
paraît à ces messieurs de Berne faire preuve d'un manque de dignité
nationale. Grâce à un certain patriotisme de tir fédéral, ils aiment mieux
mettre leurs abdications sur le compte du libre exercice de leur
souveraineté que sur celui de leur impuissance.»
Der stete psychologische Druck der Nazis auf Bevölkerung, Behörden und
Presse bezweckt eine vollständige Demobilisierung und eine klare Einordnung
in das «neue Europa». Nationalrat Oprecht analysiert die Methode im Juni
1941: «Donc, s'il n'est pas intéressant de conquérir la Suisse par les
armes, il est désirable, par contre, de la conquérir de l'intérieur.»
Erhofft wird insbesondere die Solidarisierung im «Kreuzzug» gegen den
Bolschewismus, doch der Bundesrat beruft sich auch hinsichtlich der
ungeliebten UdSSR auf die Neutralität, und die Öffentlichkeit bleibt - zur
Enttäuschung der Deutschen - grösstenteils abweisend. Gleichwohl stehlen
sich Schweizer Freiwillige ausser Landes zu den deutschen Truppen: Im Mai
1942 soll ihre Zahl 3000 betragen.
Als Nationalrat Feldmann das «Vertrauen des eigenen Volkes» zur wichtigsten
Grundlage der Aussenpolitik erklärt, notiert Bundesrat Pilet- Golaz:
«C'est faux [. . .] Seul l'intérêt du pays commande et le pays ne se confond
pas avec le Ðpeupleð.» Seine Denkweise richtet sich auf die Erhaltung einer
von ihren Gliedern abstrahierten Nation aus: «Nous devons nous efforcer de
penser toujours Ðsuisseð. Nous ne devons pas faire ce qui plaît aux uns ou
déplaît aux autres, mais uniquement ce qui est dans l'intérêt de la Suisse.
C'est de l'égoïsme, oui, mais la politique étrangère d'un Etat doit toujours
être nationale d'abord. C'est ce qu'on appelle l'égoïsme sacré.»
Churchill, der Pilet 1946 trifft, urteilt hart über den eitlen Besserwisser:
«Cet homme est fou. Il a reçu un coup sur la nuque.»
Presse zwischen Zensur und Ethos
Zahlreiche Dokumente zeigen die ungemütliche Situation der Presse, die in
den Augen der deutschen wie der schweizerischen Behörden das Haupthindernis
für «normale» Beziehungen darstellt. Das Politische Departement vermerkt
Anfang 1941 zufrieden, dass kompromisslose Deutschlandkorrespondenten wie
Reto Caratsch (NZZ) auf vielfältigen Druck hin ausgewechselt worden seien;
ihre Nachfolger erledigten ihre Aufgabe «avec tact et consciencieusement».
Im gleichen Geist vermeldet 1941 der Präsident der Basler Handelskammer, er
habe durch Druck erreicht, dass Albert Oeri, der Chefredaktor der «Basler
Nachrichten», fortan «strengste Zurückhaltung» üben werde.
Mit seiner Kritik an der antisemitischen Gesetzgebung der Vichy-Regierung
hat Oeri bereits 1940 den Protest des Botschafters in Berlin, Hans
Frölicher, hervorgerufen: Ein guter Schweizer dürfe gegenwärtig die Sache
der Juden nicht über die nationale Souveränität stellen.
Oeri entgegnet, er habe den Artikel nicht geschrieben, « obschon , sondern
weil ich wie alle guten Schweizer meine Hauptaufmerksamkeit darauf richte,
die Unabhängigkeit unseres Landes durch eine kritische Periode
hindurchzuretten. Zur Wahrung unserer Unabhängigkeit gehört es meines
Erachtens, dass unser Volk von der Nachahmung der antisemitischen Exzesse
unserer Nachbarländer abgehalten wird. Angesichts der bei uns schon sehr
regen antisemitischen Hetzerei nach ausländischem Vorbild scheint mir das
direkt nötig. [. . .] Wir dürfen nicht gar zu Ðgleichgeschaltetð aussehen.
Stellen wir uns überhaupt stumm, so bedeutet dies freilich eine traurige
Kapitulation vor der unser Land überflutenden ausländischen Propaganda.
Dieser würde dann gar kein Damm in Gestalt der Schweizerpresse mehr
gegenüber stehen.»
Interventionen zur Flüchtlingspolitik
Ein ähnliches Engagement steckt offenbar hinter den ersten Nachrichten von
Massendeportationen und -erschiessungen, die von Botschafter René de Weck in
Rumänien und Konsul von Weiss in Köln (November 1941) stammen; der frühste
Bericht aus Bukarest (Juli 1941) fehlt allerdings in den «DDS». Der
prinzipienfeste de Weck protestiert dagegen, dass Schweizer Behörden von
Einreisewilligen den Nachweis «arischer Abstammung» verlangen: «Le mot
Ðaryenð, employé (sans guillemets) par une administration suisse, donne à
penser que cette expression est chez nous d'un usage courant et que nous
acceptons comme une vérité acquise les théories racistes dont elle est
désormais inséparable.» De Weck selbst hat unter Berufung auf den
Gleichheitsparagraphen in der Bundesverfassung von Rumänien erreicht, dass
die antisemitische Gesetzgebung nicht auf Schweizer Bürger mosaischen
Glaubens angewandt wird.
Ähnlich muss der Schweizerische Israelitische Gemeindebund den Bundesrat
daran erinnern, dass alle Schweizer Bürger vor dem Gesetz gleich sind und
deshalb gegen die Diskriminierungen jüdischer Mitbürger in Vichy-Frankreich
energisch protestiert werden müsse. Weil die Bundesbehörden
aussenpolitische Komplikationen befürchten, reagieren sie nur widerwillig,
und ebenfalls nur mit grosser Zurückhaltung wegen der Situation auf dem
Arbeitsmarkt wird Anfang 1943 die Repatriierung von Schweizer Juden
veranlasst, die teilweise bereits im berüchtigten Lager Drancy auf die
Deportation warten.
Als 1941 deutsche politische Flüchtlinge nach Frankreich und damit indirekt
zu Hitlers Schergen ausgewiesen werden, brandmarkt Rappard den Verstoss
gegen «nos meilleures traditions en matière de droit d'asile». Den
entgegengesetzten Standpunkt vertritt im September 1942 der bundesrätliche
Delegierte de Haller, der gegen «la vague de générosité simpliste qui sévit
dans le pays» auftritt und die erwogene - vorübergehende - Aufnahme einiger
tausend Kinder von staatenlosen Juden vereitelt. Die Praxis wird erst nach
dem Umsturz in Italien etwas grosszügiger, wofür inzwischen auch «politische
Gründe» sprechen: «Für später könnte uns die Sache immerhin nützlich sein.»
Doch herrscht weiter der Geist, in dem Heinrich Rothmund im Januar 1943 über
die dannzumal 16 000 Flüchtlinge spricht: «Wir müssen aber alle wieder los
werden.» Noch im Mai 1945 gibt es Bedenken, jugendliche KZ-Überlebende
aufzunehmen, da diese, «vollkommen verwildert», sich «wie Tiere benehmen»
könnten.
Raubgold und Raubgut
Vom Oktober 1942 stammt eine wichtige Belegstelle für den Hehlereivorwurf an
die Nationalbank, auch wenn die Überlegungen von Direktor Paul Rossy nicht
ganz klar sind: «Le Portugal n'achète pas directement de l'or de la
Reichsbank, en partie pour des raisons politiques, en partie, sans doute,
pour des raisons de précaution juridique. Mais lorsque cet or a passé par
nous, ces objections tombent. Il me semble qu'il y a là pour nous matière à
réflexion.» Die wichtigsten Dokumente zum Goldhandel der Nationalbank
finden sich im bereits 1992 erschienenen Band 15 der «DDS», darunter auch
solche, die in die Vorbereitungsphase der Washingtoner Konferenz von 1946
fallen.
Rappard, einer der Verhandlungsteilnehmer in Washington, erkennt, dass die
Amerikaner bei den Schweizern überall Verstellung, Betrug und
Machiavellismus sehen, wo es sich oft nur um Übervorsicht, bürokratische
Langsamkeit und einen ungeschickten und fatalen Nationalstolz handle. Er
fragt sich, wie die künftigen Historiker Verhandlungstaktik und -erfolg
beurteilen werden: in der Goldfrage vermutlich positiv, bei der zugesagten
Liquidierung der deutschen Guthaben wohl als krassen Verstoss gegen das
Völkerrecht. «L'avenir dira si les millions d'économie calculés en francs
suisses, que nous devons à notre tactique, n'auront pas été trop chèrement
payés en bienveillance par la partie adverse, qui se défend difficilement de
la sensation d'avoir été roulée.»
Denselben Eindruck hätte wohl der Vertreter der Schweizerischen
Bankiervereinigung geweckt, der die Massnahmen gegen Hehlerei von Raubgut
kommentiert, die den Alliierten 1945 zugesagt worden sind: «Il faut prendre
bien garde dans ce domaine de ne pas aller plus loin qu'il n'est
nécessaire.» Die Banken sollten nicht von sich aus nach Raubgut forschen,
sondern erst mithelfen, wenn die Alliierten konkrete Hinweise vorgelegt
haben. Ferner dürften die blockierten deutschen Guthaben in der Schweiz
nicht den Alliierten ausgehändigt werden, sondern müssten als Sicherheit
für schweizerische Guthaben in Deutschland dienen.
Thomas Maissen
Diplomatische Dokumente der Schweiz. Bd. 14 (1. 1. 1941 bis 8. 9. 1943).
Hrsg. von A. Fleury, M. Cerutti und M. Perrenoud. Benteli-Verlag, Bern
1997. CXXXII und 1400 S., Fr. 165.-. Bd. 16 (9. 5. 1945 bis 31. 5. 1947).
Hrsg. von A. Fleury und M. Perrenoud. Chronos-Verlag, Zürich 1997. LXXIV und
428 S., Fr. 60.-. Die Bände 10 bis 15 (1930 bis 1945) werden zusammen zum
ermässigten Preis von Fr. 930.- angeboten.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 03.10.1997 Nr. 229 16