Lotse Petitpierre in unbekannten Gewässern
Dokumente zur Schweiz im angehenden kalten Krieg
tmn. Die Diplomatischen Dokumente der Schweiz (DDS) sind handlicher
geworden, seitdem über das Internet die Datenbank DoDiS benützt werden
kann, auf der sich Informationen zu insgesamt rund 20 000 Personen,
Organisationen und Orten befinden. Anhand dieser Kriterien (leider aber
nicht nach Stichworten) können 1000 von über 2000 aufgenommenen Archivalien
als elektronische Bilder angesteuert und gleichsam im Original konsultiert
werden (www.admin.ch/ bar/dds/d-dds1.htm). Damit sind die 134 Dokumente,
die in Band 17 der DDS gedruckt vorliegen, nur die Spitze eines
elektronischen Eisbergs, dessen Erforschung sie allerdings mit Verweisen in
den Fussnoten erleichtern.
Überlebte Neutralität?
Dokumentiert wird die Zeit vom Juni 1947 bis zum Juni 1949: Der kalte Krieg
mit griechischem Bürgerkrieg, Prager Coup und Blockade Berlins bildet den
hierzulande scharf und beunruhigt verfolgten Hintergrund für die
Bemühungen, über bilaterale Kontakte die neutrale Schweiz neu in einer
bipolaren Welt zu positionieren, nachdem mit dem zerstörten europäischen
Mächtegleichgewicht auch die herkömmliche Rolle des Landes hinfällig
geworden ist. Wirtschaftliche Fragen dominieren, wobei Verhandlungen selbst
mit einem vom Krieg verschonten, demokratischen Land wie Schweden erfolglos
abgebrochen werden müssen. Um so schwieriger gestaltet sich der Dialog mit
den verschiedenen osteuropäischen Ländern, in denen Schweizer enteignet
worden sind. Es sind aber die USA, denen Aussenminister Max Petitpierre am
20. August 1948 zu seinem Bedauern mitteilen muss, sie seien das Land, mit
dem die Schweiz gegenwärtig «le plus de difficultés» habe - das Misstrauen
der Westmächte wird durch die zähe Umsetzung des Washingtoner Abkommens
nicht gemildert.
Nicht nur der englische Aussenminister Ernest Bevin gibt skeptisch zu
verstehen, die Schweizer machten sich wohl Illusionen über ihre
Neutralität. Mit dem gleichen Wort charakterisiert Petitpierre den bis in
den Bundesrat hinein verbreiteten Glauben, das Land sei wegen der
Neutralität von den Weltkriegen verschont worden; den Ausschlag gegeben
hätten vielmehr militärische und ökonomische Gründe («industries et
transports»). Der Krieg habe gelehrt, dass integrale Neutralität eine
«Fiktion» sei; die in der Schweiz übliche, allzu umfassende Definition des
Konzepts könne sich als Passivität und Abstinenz lähmend, ja tödlich
auswirken. Gleichwohl bleibe die - politische - Neutralität zwischen den
Blöcken sinnvoll, doch müsse man gleichzeitig solidarisch an einem
westeuropäischen Wirtschaftssystem teilhaben, dem man auch gesinnungsmässig
als antikommunistische Demokratie unbestreitbar angehöre.
Der Prüfstein auf dieser Gratwanderung zwischen «Politischem» und
«Wirtschaftlichem» ist der Marshallplan, den Minister Stucki als
«Trojanisches Pferd» bezeichnet: Sollen die Schweizer als «Gesunde in ein
Krankenhaus» eintreten, in dem die USA dirigieren? Gegen solche Einwände
befürwortet Petitpierre die Teilnahme am wirtschaftlichen Aufbau Europas
und in der dazu gegründeten OEEC gerade als Ausdruck - formal unpolitischer
- Solidarität. Man solle den Mut haben, sich einzugestehen, dass angesichts
des Totalitarismus die USA «la dernière chance de l'Europe» seien. Ihr
Engagement sei wohl politisch, aber ebenfalls ökonomisch und bis zu einem
gewissen Grad auch idealistisch. - Als Aspekte von Petitpierres
Solidaritätskonzept dokumentieren die DDS die humanitäre Politik unter
Einschluss des IKRK und die Mitwirkung in den Uno-Spezialorganisationen, vor
allem in (und wegen) Genf.
Neben solchen «grossen» Themen kommt auch die Tagespolitik zu ihrem Recht,
etwa die 42 Schweizer, die in Frankreich als Kollaborateure in Haft sind,
die Weigerung, einen NS-belasteten österreichischen Skispringer zu den
Olympischen Spielen in St. Moritz einreisen zu lassen, oder das äusserst
vertrauliche französische Angebot an die Schweiz, eine Kolonie wie
Madagaskar oder Kamerun gleichsam in Pacht zu übernehmen. «Fanatische
Kommunisten» aus Osteuropa verdanken ihre offenbar eher schikanöse denn
diskrete Überwachung mit der Erklärung, die Schweizer Behörden seien «alles
Faschisten».
Meldepflicht für nachrichtenlose Konten?
Langfristige Aktualität behält eine Aussprache des Politischen Departements
(EPD) mit der Bankiervereinigung vom 21. August 1947: Deren Vertreter
fordern von den Alliierten Namenslisten von Opfern des Nationalsozialismus,
falls eine Untersuchung der nachrichtenlosen Guthaben erfolgen soll, wie
dies das Washingtoner Abkommen vorsieht. Ganz entschieden verwahren sie
sich gegen so «dumme» Massnahmen wie einen behördlichen Meldebeschluss. Da
viele Kunden gerade in Osteuropa absichtlich keinen Kontakt zu ihren Banken
unterhielten, könnten allenfalls freiwillige, bankinterne Abklärungen
erfolgen. Gleichwohl wird im unterdessen berüchtigten Abkommen von 1949
beschlossen, die Guthaben verschollener Polen mit Schweizer Ansprüchen zu
verrechnen. Statt einer solchen bilateralen Sonderlösung schlägt der Jurist
Felix Schnyder im EPD vor, man solle durch Meldepflicht eine klare
Rechtslage für alle nachrichtenlosen Vermögen schaffen und sie
treuhänderischer Verwaltung unterstellen, um sie mit «allen in Betracht
kommenden Massnahmen» den dazu Berechtigten zukommen zu lassen. Schnyders
Bedenken von 1949 haben sich als Kassandrarufe erwiesen.
Diplomatische Dokumente der Schweiz. Bd. 17. Chronos- Verlag, Zürich 1999.
494 S., Fr. 60.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 14.04.2000 Nr. 89 83