Plötzlich ist einer da. Niemand weiss, woher er gekommen ist. Er scheint keinen Namen zu haben, kein Vorleben, kann weder schreiben noch sprechen und versteht keine der Fragen, die man ihm stellt.
Ein solcher Mensch ist im September 1844 auf Alp Selun im oberen Toggenburg aufgetaucht. Er war vielleicht sechzehnjährig, fast nackt, stumm. Weil sich trotz steckbrieflicher Ausschreibung keine Angehörigen meldeten, wurde er im Armenhaus interniert. Seinen Namen erhielt er vom Fundort, dem Selun und dem Schutzpatron der Gemeinde Alt St. Johann.
Von diesem Johannes Seluner und den Geschichten um seine Person erzählt Rea Brändle in ihrem Buch. Sie tut es aus verschiedenen Perspektiven: Für die Behörden war Johannes Seluner ein Kostenfaktor, den man so schnell wie möglich loswerden wollte. Für die Wissenschaft war er, mit seinen Behinderungen, ein nützlicher Idiot. Und für die Leute wurde er, weit über die Region hinaus, ein gefundenes Fressen für fantastische Geschichten – bis heute.
Plötzlich ist einer da
COLLAGE: Die offizielle Version
Die Geschichte des Johannes Seluner, erzählt in groben Zügen
ERSTES KAPITEL
«… dass wir wünschten, dieses Menschen entlediget zu werden»
COLLAGE: Homo ferus
Ein Hilfsbedürftiger wird zum Tiermenschen
ZWEITES KAPITEL
«Da kam ein splitternacktes Wesen aus den Erlen»
COLLAGE: Herkunft
Armeleutebub, Thronfolger, Kriminalfall – ein endloses Werweissen
DRITTES KAPITEL
«Und nahm sein dunkles Geheimnis mit ins Grab»
COLLAGE: Wissenschaft
Mythen werden demontiert – und neue geschaffen
VIERTES KAPITEL
«… von dessen Gebeinen hier die Rede sein soll»
COLLAGE: Empathie
Perspektivenwechsel und: Was wäre, wenn …
FÜNFTES KAPITEL
«Natürlich hatte er Gefühle»
COLLAGE: Ausblick
Verwertungen, Scham und Wiedergutmachungsversuche
SECHSTES KAPITEL
«Keiner, den man vorzeigen könnte?»
Ein Rätsel zum Letzten
«Der Leichnam des ‹taubstummen Findlings› vom Obertoggenburg wurde 1926 zu rassistischen Forschungszwecken exhumiert und nun – fast 100 Jahre später – in Neu St. Johann endlich zur letzten Ruhe gebettet. Bis heute bekunden einige Mühe, ihn als ganzen Menschen anzuerkennen.»
Vollständiger Beitrag
«Am 9. September 1844 begegnet ein Geisshirt am Selun, einem der Churfirsten, einem fast nackten Jugendlichen. Er befindet sich in bemitleidenswertem Zustand und kann sich nicht verständlich machen. Der Hirt bringt ihn deshalb ins Tal hinunter, wie es im damaligen Polizeibericht heisst. [...] In ihrem vielbeachteten Buch ‹Johannes Seluner. Findling› hat sich die Literaturwissenschafterin Rea Brändle anhand von Gemeindeprotokollen, Armenhaus-Dokumenten und Kirchenbüchern dem bedrückenden Alltag eines Armengenössigen im 19. Jahrhundert angenähert. Und sie hat all die haarsträubenden Geschichten, die Seluner zum über die Region hinaus bekannten Objekt für Schaulustige machen, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft.»
«Rea Brändles Buch gibt einen strukturierten Überblick über Mythos und Wahrheiten rund um den Mann, der vor 173 Jahren aus dem nichts aufgetaucht ist. Und genau diese strukturierte Aufarbeitung macht das Buch äusserst lesenswert. Es ist Geschichtsunterricht und Unterhaltung in einem.»