Dem Tuchhändler Joseph Wyler aus dem ländlichen Aargau und dem Anwalt Martin Bloch aus St. Gallen gelingt im bürgerlichen Zürich des späten 19. Jahrhunderts ein sozialer Aufstieg, wie er noch ihren Eltern verwehrt gewesen wäre. Im boomenden Wirtschaftszentrum nehmen sie die über Jahrhunderte verweigerte Integration in die eigenen Hände: Sie werden Bürger und bleiben Juden. Ihren politischen Ambitionen im Freisinn jedoch wird eine Abfuhr erteilt.
1925 heiraten Hugo Wyler, Sohn des Tuchhändlers, und Gertrud «Trudy» Bloch, die Tochter des Anwalts. Doch längst ist alles instabil geworden. Gegen den Widerstand der Familie wird Trudy Wyler-Bloch Zionistin. Ihr Mann tritt in Martin Blochs Kanzlei ein und wird bald darauf Honorarkonsul von Monaco. Politische Wirren rund um Martin Bloch bringen die Anwaltskanzlei aber in arge Schieflage, und der Zweite Weltkrieg setzt auch dem Tuchhandel schwer zu. Im Aktivdienst sehen jüdische Männer wie Hugo Wyler oder sein Schulfreund, der Schriftsteller Kurt Guggenheim, die Möglichkeit, die unvollständige Emanzipation ihrer Vätergeneration zu vollenden, während Trudy Wylers Blick auf Palästina gerichtet bleibt.
Auf inspirierende Weise werden in dieser Kulturgeschichte des Sozialen die Beziehungen und Brechungen schweizerisch-jüdischer Selbstentwürfe zweier Generationen sichtbar gemacht.
Erich Keller hat Geschichte und Deutsche Literaturwissenschaft studiert. Er arbeitet als Publizist und Historiker in Zürich.
Eintritt, Erinnerung und Erzählung Verzögerter Eintritt in die Moderne
Erinnerungsräume
Biografie
Zur Textform
Eine bürgerliche, jüdische Familie Hochzeit am Paradeplatz
Heterotopie 1: Paradeplatz Genealogie und Gedächtnis
Gedächtnisregulierung
Emanzipation – Integration – Isolation Joseph Wyler und Martin Bloch: Biografische Asymmetrien
Der Kaufmann Joseph Wyler
Martin Blochs unvollständige «Erinnerungen und Betrachtungen» Verwurzelungen
Kindheit in St. Gallen
Geschichtsbewusstsein in der Provinz
Studium bei Max Weber – Einbürgerung – Promotion Eintritt ins bürgerliche Zürich
Anwaltskarriere
Konfliktlinien: Hausierer, «Ostjuden» und Zionisten
Verein Réunion und Dienstagclub
Weitere Schritte zur bürgerlichen Komplettierung Karrieren und Krisen
Das Schächtverbot und die Grenzen der Integration
Die Augustin-Keller-Loge
Krieg und Kriegsfolgen
Heterotopie 2: Ecke Stockerstrasse/General-Guisan-Quai Politik im engen Rahmen
Der Sozialdemokrat Farbstein und der Freisinnige Bloch
Politisches Surrogat: in der ICZ …
… und im SIG
Auf wen zielt der Antisemitismus? Im Kraftfeld des Zionismus
Zionistische Strömungen
1929: Der Kongress in der «alten Nihilistenstadt»
Die Neugründung der Jewish Agency
Eine «nahöstliche Schweiz» Die grosse und die kleine Politik
Die Weltwirtschaftskrise von 1929
Der Verein Zürcher Rechtsanwälte und die Fremdenpolizei Ein Mann mit Vergangenheit
Verhärtungen
Die Flüchtlinge Otto Landsberg und Philipp Loewenfeld
Unter Frontisten
Eklat in der Synagoge Blochs Rückzug
Disparate Erfahrungen Zwischen Bürgerlichkeit und Zionismus
Hugo Wylers Studienzeit
Rekrutenschule und Aktivdienst im Ersten Weltkrieg
Landesstreik: Bewährung und Abgrenzung
Heterotopie 3: Stauffacherbrücke
Promotion zum Dr. iur. – Praktikum in Versailles
Trudy Bloch
Kulturarbeit für Palästina und gegen die väterliche Enge
Krisen und das dichte Innere der Familie
Das «Jahrhundert der Frau»
Honorarkonsul von Monaco
Alles wird anders Die Zäsur von 1938
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
Heterotopie 4: Das Gemeindehaus an der Lavaterstrasse
Im politischen Niemandsland
Politik gegen Flüchtlinge
Gescheiterte Emigration nach New York Zweiter Weltkrieg
Kriegsbeginn und Mobilisierung
Heterotopie 5: Das Areal der Oerlikon-Bührle
Individuelle Erfahrungen und Geistige Landesverteidigung
Im Réduit der Poesie
Heterotopie 6: Schanzengraben
Eine Art Gleichheit in Feldgrau
Gedächtnis gegen Erinnerung
Guggenheims Aktivdienst-Romane und die Geistige Landesverteidigung Destabilisierung
Erinnern aus der Gegenwart
«Mit dem Anwalt und Kaufmann ist es einfach vorbei für uns»
Die Grenzschliessung von 1942
Das Flüchtlingskind Fritzi Rosner und die Pflegefamilie Wyler
Heterotopie 7: Die Fabrik im Aeugstertal
Blicke über die Grenze
Monaco, das Vichy-Regime und der NS-Staat
Black Box Monaco
Nach 1945 Stabilisierungen
Vergessen und Erinnern
Erinnerungskultur nach 1945: Friede, Freiheit und Switzerland
Erinnerung als Diskontinuität Komplementäre Erinnerungsräume
Transformationen im Archiv Israel als Erinnerungsort
Abblende
Synopsis: Bürger und Juden
«Mit diesem Buch eröffnet Keller eine geschichtswissenschaftliche Herangehensweise an Familienarchive, die durch das Beiziehen und die Interpretation von zusätzlichen literarischen, filmischen und bildlichen Quellen und durch die zyklische Erzählstruktur zu einer neuen Darstellungs- und Erkenntnisform führt.»
Vollständige Rezension auf infoclio
«Sehr packend beschreibt der Autor die Wege der beiden Familien im Zürich der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg.»
«Der an literarischen und theoretischen Bezügen reichen, mit Schreiblust und auch etwas Polemik verfassten Dissertation ist Originalität nicht abzusprechen.»
«Unter dem Titel „Bürger und Juden“ ist Erich Keller eine reich kontextualisierte und sehr lesenswerte Studie zur Positionierung von Schweizer Juden im städtischen Bürgertum Zürichs gelungen, die etwa neue Perspektiven auf die Bedeutung der „geistigen Landesverteidigung“ und die Rolle der jüdischen Kultusgemeinde in der Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg eröffnet. Besonders Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker mit Schwerpunkt jüdische Geschichte werden dieses Buch mit großem Gewinn rezipieren.»
«Ein wichtiger Beitrag zur Ausleuchtung von Leben zwischen Karriere und gesellschaftlichem Druck sowie zwischen Traditionen und Verantwortung.»