Als bedarfsgerechte Bereitstellung von Gütern muss Logistik Parameter wie Kosten, Kunden, Mengen, Ort, Zeit und Zustand von Gütern spezifisch aufeinander abstimmen und koordinieren, mit anderen Worten vernetzen. Netzwerke stellen folglich das mediale Dispositiv der Logistik, vernetzte Steuerung ist ihr Modus Operandi. Mit Netzwerken in diskurs- und gouvernementalitätstheoretischer Perspektive setzt sich Vernetzte Steuerung auseinander. Der 11. Band der Reihe Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik geht auf eine interdisziplinäre Tagung zum Thema Netzwerke als Modalitäten soziotechnischen Regierens zurück und stellt ein mehr als gelungenes Beispiel des umstrittenen Genres dar. Eine methodisch reflektierte Konzeption, anregende, einander teilweise herausfordernde Beiträge der Autorin und der sieben Autoren sowie produktive Querbezüge machen die Lektüre zu einem kurzweiligen und intellektuellen Vergnügen.
Den Grundstein dafür legt die umsichtige Einleitung des Herausgebers. Der Kultursoziologe Stefan Kaufmann nähert sich Netzwerken als ‹Wissenstypus› aus vier heterogenen soziologischen Analyseperspektiven. Sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse interessiert sich für Beziehungsnetzwerke von Personen; zum Beispiel konnte Mark Granovetter in einer viel beachteten Studie zeigen, dass sich nicht enge und vertraute, sondern lose und informelle Beziehungen für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz am besten eignen. Die sozialen Kreise dieser Personen überlappen sich in geringerem Mass, was gerade die Stärke schwacher Beziehungen ermöglicht und ausmacht. Neoinstitutionalistische Ansätze bestimmen Netzwerke als eine Organisationsform zwischen selbstregulierendem Markt und regulierter Hierarchie. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wiederum begreift Netzwerke als hybride Kopplungen von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren, die durch diese Verbindungen agency erst erlangen. In Manuel Castells Arbeiten schliesslich entspringt die gesellschaftliche Dynamik seines Informationszeitalters aus der Logik von Netzwerken. Kaufmann schliesst diese Einführung in die Soziologie der Netzwerke mit der Feststellung, dass solche Analysen nicht nur deskriptiv-analytisch funktionieren, sondern «als reflexives Moment in soziale Praktiken zurück[kehren]» und «eine prognostische Kraft» entfalten. (15) Deshalb richtet sich der doppelte Fokus des schmalen Bandes auf «Plausibilität und Wirksamkeit der Netzwerkmetapher»: Woher stammt die Überzeugungskraft des Netzwerkkonzepts? Und welche Prägekraft zeitigen Netzwerke und deren Analysen?
Diesen Fragen gehen im ersten Teil drei Aufsätze in wissensgeschichtlich-genealogischer Perspektive nach. Der Medienwissenschafter Erhard Schüttpelz erörtert virtuos die «Genealogie und Karriere des Netzwerkkonzepts». Um 1900 tauchen Netzwerke makrotechnologisch in Form von Eisenbahn oder Telegrafie auf und mikrosoziologisch in Analysen flüchtiger Sozialbeziehungen. Im 20. Jahrhundert kreuzen sich diese Netzwerke zu makrosoziologischen Weltgesellschaften und mikrotechnologischen Laborbedingungen. Ermöglicht wird diese Kreuzung durch logistische Kulturtechniken wie die network project method, die anhand von Flussdiagrammen Handlungsabläufe optimiert, das heisst Personen (Arbeiter), Artefakte (Güter) und Zeichen (Diagramme) koppelt und auflöst – ganz im Sinne der ANT. Folglich lässt sich die Geschichte des Begriffs Netzwerk nach Schüttpelz als dreifache Mediengeschichte schreiben, als die Geschichte von Artefakten (Infrastrukturen), Sozialbeziehungen (in wissenschaftlichen Publikationen analysiert), operativen Bildern (Diagrammen) und deren spezifischen Kopplungen. Seine Plausibilität, seine Erklärungskraft aber verleiht dem Netzwerk – so Schüttpelz in einer letzten, etwas unvermittelt vagen Wendung – sein metaphorischer Status.
Nach der Ausübung und Lokalisierung von Macht in Netzwerken fragt der Beitrag von Paul N. Edwards. In einer so differenzierten wie überzeugenden Interpretation von Foucaults Kapillartheorie der Disziplinarmacht insistiert der Technologiehistoriker auf der Spannung zwischen der Kontrolle der Disziplinarinstitution und der Selbstkontrolle derart disziplinierter Individuen. Auch wenn Institutionen wie die Schule auf Unterwerfung und Kontrolle basieren, entscheidend ist die Selbstunterwerfung der SchülerInnen, ihre Anerkennung der Regeln und Ziele, ihre Selbstdisziplinierung. Was geschieht nun in einer Welt, die sich weniger durch eine Vielzahl von Institutionen, als vielmehr durch eine Vielfalt sich kreuzender und überlagernder Netzwerke konstituiert? In einer Welt, in der Originalität nicht mehr die einzige Form künstlerischer Kreativität und wissenschaftlicher Arbeitsweise darstellt? Eine Kultur, die Sampeln, Kopieren, Wiederverwenden, Überschreiben potenziell als kreativ und produktiv versteht, transformiert – so die These von Edwards – auch die Institution(en) der (Selbst-)Disziplin. Netzwerke produzieren eine ihnen eigene Form der Disziplin, eine schwache Disziplin, die Verhaltensweisen nicht mehr mittels Institutionen, sondern mittels Technologien codiert. Nicht mehr Subjekte, sondern Projekte bilden die Zielscheibe dieser schwachen Disziplin, die wie schwache Beziehungen überraschend stark sein kann.
Wie hybride Netzwerke aus menschlichen Akteuren und avancierter Technik in Zukunft gesteuert werden könnten, untersucht der Techniksoziologe Johannes Weyer in sichtlicher Abgrenzung zu Latours ANT. Weyer beharrt darauf, dass selbst avancierter (quasiintelligenter) Technik wie dem Kollisionsvermeidungssystem TACS in Flugzeugen kein Akteurstatus zugeschrieben werden darf, weil Software zwar rechnet aber nicht entscheidet. Systeme wie die Flugsicherung basieren zwar auf der Verfügbarkeit von innovativer Technik, diese spielt aber beim Entwurf von Zukunftskonzepten, das heisst bei der Handhabung von Unsicherheiten und Risiken, keine Rolle. Auf dieser Ebene kommen, so Weyer dezidiert, keine hybriden Akteur-Netzwerke zum Zug, sondern die traditionelle Theorie sozialer Netzwerke: ausschliesslich menschliche Akteure in sozialen Aushandlungsprozessen.
Die fünf Texte des zweiten Teils befassen sich in exemplarischen Tiefenbohrungen empirisch mit unterschiedlichen Steuerungspraktiken von Netzwerken. Der Wirtschafts- und Kultursoziologe Urs Stäheli analysiert die Börseneffekte von Kommunikationsmedien. Gerade weil die ökonomische Theorie Märkte als medienfreie Räume idealisiert, in denen Preise alle Informationen vollständig und unmittelbar repräsentieren, gelingt es der Ökonomie nicht, vermeintlich systemfremde Kommunikationsmedien wie Gerüchte, Zeitungen oder gar Börsenticker anders als panisch zu interpretieren respektive in die Theorie zu integrieren und vernetzt zu steuern. Demgegenüber vertritt die Historikerin Barbara Bonhage die These, dass es gerade nicht die Einführung von Computern in den 1950er-Jahren gewesen ist, die Banken, Kunden und Finanzströme zu (globalen) Netzwerken zusammengeschlossen hat, sondern die Redefinition der (Schweizer) Banken als Dienstleistungsbetriebe in den 1980er-Jahren. Erst als nicht mehr die Automation des Buchungswesens, sondern die Selbstbedienung der Kunden an Bargeldautomaten und bargeldlose Bezahlung von Waren fokussiert wurden, formierten Banken sich zu Netzwerken. Jörg Potthast differenziert am Beispiel des Pannenmanagements bei der Gepäckabfertigung die programmatische These neoinstitutionalistischer Ansätze, wonach geregelte Organisationen heute von flexibleren Netzwerken abgelöst werden. Der Techniksoziologe argumentiert, dass es sich dabei nicht um eine historische Ablösung, sondern um einen dialektischen Prozess handelt. Der Telekommunikationssoziologe Nicolas Auray zeigt anhand von free/open source-Projekten, wie Online-Gemeinschaften als institutionelle Experimente partizipativer Demokratie funktionieren. In diesen Projekten geht es weniger um die Entscheidungsfähigkeit von Gemeinschaften, als vielmehr um die Gemeinschaftsbildung selbst, indem die entscheidende Differenz zwischen vorgängiger Meinungsbildung und anschliessender Abstimmung qua Priorisierung verschiedener Wahloptionen und Widerrufbarkeit von Entscheidungen aufgehoben wird. Abgeschlossen wird der Tagungsband mit dem Beitrag des Herausgebers über network-centric warfare. Kaufmann erläutert die Zukunft der US-Armee, wie das Pentagon sie träumt. Die Ausrüstung mit und der Anschluss an technologische Netzwerke soll aus disziplinierten Soldaten hybride, selbstorganisierte, proaktive Leader formen. Indem Land Warriors (so der Name des Projekts) nicht nur ihre Umgebung, die Lage von Freund und Feind, sondern gleichzeitig sich selbst auf einem headup-display beobachten können, werden sie zu virtuellen Kommandeuren (ihrer selbst), was zugleich auch für ihre Kameraden gilt. Das Netz, das etymologisch eine Technik des Fallenstellens ist (Schüttpelz), wird zum Kontrollraum.
Gewiss ist das nicht alles ausschliesslich neu und zum Glück auch nicht widerspruchsfrei. Gerade deshalb liefert dieses Resultat einer Tagung und ihrer schriftlichen Fixierung erfreulich produktive Lektüren. Erfreulich auch, dass zwei Originalbeiträge aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt worden sind.
Stefan Nellen (Basel) in Traverse 2009/3