Im Mittelpunkt der ureigenen Kompetenz der Philosophie steht das Nachdenken des Menschen über sich und die Welt. Dies gilt auch für die Akteure der Medizin und ihrer Welt. «iatrós philósophos isótheos» - der Arzt, der Philosoph wird (und nach Lebensweisheit strebt), wird einem Gott gleich - schrieb der Urvater der Heilkunde, Hippokrates. Galen, ein weiterer Urvater der Medizin, stellt eines seiner Traktate unter den Titel «Quod optimus medicus sit quoque philosophus» - dass der vorzügliche Arzt auch Philosoph sein muss. Er verlieh damit seiner Überzeugung Ausdruck, die Medizin könne nur in enger Verbindung mit der Philosophie sachgemäss betrieben werden, indem die Philosophie der Medizin den theoretischen Rahmen und das methodische Rüstzeug liefert.
In den letzten 200 Jahren hat sich ein bedeutender Wandel vollzogen: Die Medizin hat sich aus dem ursprünglichen philosophisch-spekulativen Bezug gelöst und in einer grossen Euphorie den Naturwissenschaften zugewandt. Gleichzeitig war für die Philosophie mit der «Ausklammerung» der leiblichen Dimension des Menschseins die Bahn frei, sich zu einer rein geisteswissenschaftlichen Disziplin in hermetischer Abgeschlossenheit zu entwickeln. In beiden Disziplinen sind Defizite einseitiger Spezialisierung zum Problem geworden. Die weltfremd gewordene Philosophie kann dem Menschen nicht mehr geben, was ihm die naturwissenschaftliche Medizin schuldig bleibt.
Heute jedoch vollziehen Philosophie und Medizin eine Entwicklung. Die Medizin mit ihren scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten zur Verlängerung des Lebens, zur Genmanipulation, zur «Machbarkeit» des Menschen, zur Erzeugung artübergreifender Chimären lässt Fragen aufkommen, die sie selbst nicht mehr beantworten kann. Sie fordert damit ein sensibilisiertes, philosophisches Allgemeinbewusstsein geradezu heraus und bringt die gegenseitige Abhängigkeit zu Bewusstsein.
Annemarie Pieper: Corpus Delicti. Der Körper im Spannungsfeld von Philosophie und Medizin
DIE MEDIZIN IM WANDEL DER GESELLSCHAFT
Enno Rudolph: Die Medizin als Provokation der Philosophie
Dietrich von Engelhardt: Anthropologische Medizin - historische Entwicklung, Perspektiven der Zukunft
Dieter Birnbacher: Die Bedeutung der Bio-ethik für die Medizin. Das Beispiel der Stammzellenforschung
Peter Stulz: Zum Paradigmenwechsel in der modernen Medizin. Vom Dogma zur Evidenz
DIE HIRNFORSCHUNG ALS WISSENSCHAFTLICHE UND GESELLSCHAFTLICHE HERAUSFORDERUNG DES 21. JAHRHUNDERTS
Hannah Monyer: Vom Molekül zum Verhalten
Günter Rager: Das heutige Menschenbild angesichts der Befunde der Neurowissenschaften
Eberhard Schockenhoff: Wie frei ist der Mensch? Hirnforschung und Theologie im Dialog
ARZT UND PHILOSOPH: KARL JASPERS UND DIE MEDIZIN
Hans Saner: Vom Umgang mit der Krankheit
Wolfram Schmitt: Jaspers' Pathographik im besonderen Hinblick auf Hölderlins Krankheit und Dichtung
Reiner Wiehl: Philosophie als Grundlage der Jasperschen «Allgemeinen Psychopathologie»
Matthias Bormuth: Der Krankheitsbegriff bei Karl Jaspers und seine Bedeutung für die Hirnforschung
«Übereinstimmend zeigen die Autoren des Bandes, wie fruchtbar der Austausch der Medizin mit VertreterInnen anderer Wissenschaften, insbesondere der Philosophie, ist, und sie treten für die Anerkennung des bisher nicht auflösbaren Gegensatzes zwischen natürlicher Determiniertheit und individueller Freiheit ein. Die Vielfalt der von ihnen angesprochenen Perspektiven und die grosse Differenziertheit ihrer theoretischen Erörterung machen den Band nicht nur für Philosophen und Mediziner, sondern auch für Laien äusserst empfehlenswert.»
B. Handwerker Küchenhoff, Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie