Eine Schweizer Geschichte
der Röntgenstrahlen
bt. Die Röntgenstrahlen haben nach ihrer Entdeckung durch Wilhelm Conrad Röntgen Ende 1895 in Windeseile die Welt erobert. Die Tatsache, dass die neu entdeckte Strahlenart lebende Personen bis auf ihr Skelett entkleiden konnte, hat nicht nur die Physiker interessiert und die Phantasie der Zeitgenossen angeregt, auch der grosse Nutzen dieser Entdeckung für die Medizin war evident. Von Europa bis Amerika wurde sofort von Lehrern, Physikern und Erfindern, aber auch von Ärzten mit den neuen Strahlen experimentiert.
Monika Dommann hat nun in ihrer Dissertation nachgezeichnet, wie sich die Technik der Röntgenaufnahmen und ihr Gebrauch in der Medizin auch in der Schweiz etablierten. In Davos zum Beispiel stellte der aus Polen eingewanderte Privatgelehrte Alexander Rzewuski bereits wenige Tage nachdem die Nachricht von den «X-Strahlen» ihre Reise um die Welt angetreten hatte, mit selbst gebauten Apparaten erste Bilder her, und schon im Februar erläuterte er in öffentlichen Vorträgen «Die neue Entdeckung Prof. Röntgens». Bald machte er auch für einen befreundeten Arzt erste Aufnahmen von inneren Verletzungen - ein durchaus typisches Beispiel für die rasche Verbreitung der neuen Technologie.
Die Autorin verfolgt in ihrer Arbeit, die David Gugerli im Rahmen von Studien zur Technikgeschichte herausgegeben hat, aber nicht nur detailliert in verschiedenen Regionen der Schweiz die Entwicklung und Verbreitung der Röntgenstrahlen. Sie richtet ihr Augenmerk vor allem auch auf Machtkämpfe und Hierarchisierungsprozesse - sei es zwischen den Physikern und Technikern einerseits, die die Apparate entwickeln und in den Anfängen anwenden, und den Medizinern anderseits, die die Erfolge in der Regel für sich reklamieren; oder zwischen den männlichen Ärzten (von denen sich manche bald als «Radiologen» abgrenzen) und dem (zunehmend weiblichen) Hilfspersonal, das die Bilder zu bearbeiten und bewirtschaften hat, den Röntgenschwestern.
Die Entwicklung der Technik schreitet stetig voran, und mit ihr verändert sich auch der Alltag in Spital und Labor. Die richtige Interpretation der Bilder muss erst gelernt sein, es entstehen Röntgenatlanten, Archive und neue Institutionen. Nicht nur im Krankheits- und Unfallwesen spielen Röntgenbilder eine immer grössere Rolle, Reihenuntersuchungen von Soldaten zur Tuberkuloseprävention und die Schirmbildkampagnen mit ihrer Breitenwirkung bringen neue Veränderungen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Rasch zwar sind auch gesundheitliche Gefahren sichtbar, doch erst nach den Atombombenexplosionen Mitte des Jahrhunderts werden gesetzliche Schutzbestimmungen erlassen. Das Inkrafttreten der Strahlenschutzverordnung hat Dommann denn auch als Endpunkt für ihre Geschichtsforschung gewählt. Das Buch ist zwar vor allem aus soziologischen Gesichtswinkeln geschrieben worden. Die Vielzahl von Fakten machen es aber auch für Mediziner, Physiker und viele Laien zu einer interessanten Lektüre.
Monika Dommann: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen 1896-1963. Chronos, Zürich 2003. 447 S., Fr. 44.-.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung
Neue Zürcher Zeitung FORSCHUNG UND TECHNIK Mittwoch, 07.04.2004 Nr.82 69
(c) 1993-2004 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 2