B. B. und kein Ende
Neue Funde aus Brechts Schweizer Zeit
Fast ging's ihm wie dem Hans im Kinderreim: Was er suchte, fand er nicht, und was er fand, hatte er nicht gesucht - der Schriftsteller und Brecht-Forscher Werner Wüthrich. Erst wollte er nur seine Wiener Dissertation in erweiterter Form neu vorlegen, schliesslich ist daraus eine breit angelegte Darstellung von Brechts Aufenthalten in Basel, Zürich, Chur, Carona und seiner Schweizer Zeit, 1947 bis 1949, entstanden. Den entscheidenden Impuls lieferte die Entdeckung im Nachlass von Brechts Gastfamilie, dem Romanistenpaar Reni und Hanswalter Mertens-Bertozzi in Feldmeilen. Hier fanden sich Schachteln mit Originaldokumenten, Büchern, Typoskripten, Korrespondenzen und Bühnenmanuskripten, ebenso die Koloman-Wallisch-Kantate, mehrere Skizzen und zwölf unbekannte Keuner-Geschichten. Da indessen die Stiftung Archiv der Akademie der Künste in Berlin in Ankaufsverhandlungen für das Bertolt-Brecht-Archiv steht und Rechtsfragen abzuklären sind, können zu den Inhalten der Textkonvolute noch keine Einzelheiten bekannt gegeben werden. Ferner barg der Nachlass des befreundeten Ignaz Gold siebzig Fotos der «Puntila»-Uraufführung, die eine andere Sicht auf diese Inszenierung einleiten. Auf jeden Fall zeigte sich Erdmut Wizisla, der Leiter des Bertolt-Brecht- Archivs, donnerstags an der Medienkonferenz im Kornhaus Bern über den neuen Stand der Forschung begeistert. Wüthrichs Publikation erweitert die Quellensituation erheblich, hat doch der Autor neue Zeitzeugen befragen und wichtige Indizien sichern können. So stellt sich etwa ein erstaunlicher Zusammenhang zwischen Brechts und Jakob Bührers Galilei-Figur her. Aufschlussreich ist ferner die Tatsache, dass Brecht entgegen der bisherigen Annahme in der Schweiz bleiben wollte, den Plan einer Wanderbühne hegte und später von einem Haus am Genfersee sprach. Doch der verfemte Dichter sollte aufgrund eines internen Geheimberichts, welcher der Schweizerischen Bundesanwaltschaft seit 1939 vorlag und Brecht als «Stalin-Agenten» bezeichnete, unmittelbar vor der Zürcher «Puntila»-Uraufführung, am 5. Juni 1948, ausgewiesen werden, was der sozialistische Politiker Hans Oprecht im letzten Moment verhindert hat.
Beatrice Eichmann-Leutenegger
Werner Wüthrich: Bertolt Brecht und die Schweiz (Band 1). Unter Mitarbeit von Stefan Hulfeld. Theatrum Helveticum 10, hrsg. von Andreas Kotte. Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Chronos-Verlag, Zürich 2003, 600 S. - Im März 2004 wird im Museum Strauhof, Zürich, eine Ausstellung zum Thema «Bertolt Brecht und die Schweiz» eröffnet.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 04.10.2003 Nr.230 46
(c) 1993-2003 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1
«Werner Wüthrichs Studie ist eine schier unerschöpfliche Fundgrube neuer Erkenntnisse, gut erzählter Geschichten und wunderbarer Fotos über Brecht und die Schweiz.»
Felix Schneider in der NZZ am Sonntag