Weshalb entstand der Schweizer Bundesstaat?
Ein Sammelband zu «Revolution und Innovation» 1798-1848
tmn. Aus Anlass der Bundesjubiläen hat die «Allgemeine Geschichtforschende
Gesellschaft der Schweiz» rund 100 Historikerinnen und Historiker in einem
«Vermittlungsprojekt» vereint, das in kurzen, über vier Bände verteilten
Aufsätzen Einblick gibt in schweizerische Krisenzeiten und die Ausbildung
des schweizerischen Nationalstaats. Im ersten Band wird die Genesis des
Bundesstaates von 1848 erörtert, einer verfassten Ordnung, die - so die
Grundthese - es seither ermöglichte, «die Notwendigkeit eines steten
Wandels mit den Kontinuitätsanforderungen eines Staatswesens auf produktive
Weise zu vermitteln».
Kampf um Wahrheit oder Binnenmarkt?
Das Projekt trägt in mancher Hinsicht die Handschrift des Zürcher
Wirtschaftshistorikers Hansjörg Siegenthaler, der selber keinen Beitrag
beigesteuert hat, aber mit einigen Schülern und dem Konzept «Quellen der
Wahrheit» präsent ist (vgl. auch NZZ 27./28. 6. 98). Worüber ereiferten sich
die Zeitgenossen in den 1840er Jahren derart, dass sie schliesslich bereit
waren, in einem Bürgerkrieg ihr Leben und den Bestand der
Eidgenossenschaft aufs Spiel zu setzen? Die «idealistische» Position ortet
den Konflikt in der Verunsicherung angesichts einer zunehmend
unübersichtlichen Welt, in der um die grundlegenden Regeln der
Wahrheitsfindung und der politischen Gestaltung gerungen wird. Was soll
gelten: christliche Offenbarungsreligion oder wissenschaftlicher
Rationalismus, überliefertes historisches Recht oder naturrechtlich
begründetes Menschenwerk, einzelörtische Hoheit und kollektive Freiheiten
oder nationale Souveränität mit individueller Freiheit?
Die «materialistische» Position betont dagegen die Wirkungsmacht des
sozioökonomischen Wandels. Der Bundesstaat als Binnenmarkt wird damit zum
Produkt des wirtschaftlichen Vereinheitlichungsdrucks. Hans-Ulrich Jost
formuliert diesbezüglich die These, bei allen auch politischen Differenzen
über den «ökonomischen Diskurs» seien die Wirtschaftsakteure zur
Übereinkunft gelangt, dass er auf einer höheren Ebene, nämlich derjenigen
eines Nationalstaats, geführt werden müsse. Cédric Humair sekundiert am
Beispiel der Zollvereinheitlichung: Die neuen wirtschaftlichen Eliten seien
der Zwänge des Bundesvertrags von 1815 überdrüssig gewesen. Wie jedoch
Margrit Müller und Patrick Halbeisen zeigen, bemühte sich etwa der
Schweizerische Gewerbeverein um wirtschaftliche Vereinheitlichung im
bestehenden Verfassungsrahmen, etwa durch Konkordate.
Uneinheitliche Lager und Fronten
Der «materialistische» Ansatz strapaziert die Dialektik, wenn es den
listigen «Weltgeist» von ökonomischen Traktaten auf die individuelle
Handlungsebene zu transportieren gilt. Eduard Blösch, der Präsident des
Schweizerischen Gewerbevereins, oder der von Jost und Humair angeführte
Thurgauer Christian Beyel-Mörikofer waren dezidierte Konservative: Sie
strebten keinen Bundesstaat an, schon gar nicht um den Preis eines
Bürgerkriegs, den sie vielmehr zu verhindern suchten, indem sie - zwischen
den politischen Extremen vermittelnd - über wirtschaftliche Annäherung
politisches Konfliktpotential abzubauen suchten. Eine von Humair als
Belegstelle angeführte, aber unvollständig zitierte Aussage Philipp Anton
von Segessers belegt gerade, worum es im Sonderbundskrieg tatsächlich ging:
Der Luzerner Patrizier spricht von einem gordischen Knoten, der nur mit
einem Schwert zerschlagen werden könne. Dabei denkt er überhaupt nicht an
«les divergences d'intérêts économiques», sondern - von Humair übersehen -
an die «Natur des Schweizerischen Staatskörpers»: Unaufschiebbar war 1847/48
die Klärung, welche politische Ordnungsvorstellung Gültigkeit beanspruchen
dürfe.
Dass diesbezüglich auch das unterlegene Lager keineswegs einmütig war, zeigt
Marco Jorio: Die konservativen Föderalisten vom Schlage Segessers hatten mit
den durchaus revolutionären Umgestaltungsplänen der «restaurativen Ultras»
um Siegwart-Müller wenig gemeinsam. Letztere lagen in ihrem visionären
Extremismus näher beim entgegengesetzten, radikalen Pol, dessen oft
vernachlässigte katholische Wurzeln im aufklärerischen Antiklerikalismus
Josef Lang aufzeigt. Ein Paradebeispiel für diese Tradition, den Aargauer
Augustin Keller, interpretiert Andreas Ernst als «charismatische»
Führerfigur. Ob allerdings Ernsts durchaus zutreffende Beobachtung, dass die
«komplexe vertikale und horizontale Strukturierung der Schweiz» eine
bedingungslose Polarisierung zwischen zwei Lagern verhinderte, diesen
methodischen Umweg über Max Weber braucht, scheint fragwürdig: Mobilisiert
wurden die Schweizer nicht durch Garibaldis oder Bismarcks, sondern durch
«Sachfragen» - bedrohter Glaube hie, Jesuitengefahr dort.
Entwicklung der politischen Kultur
Gründe für den von Ernst betrachteten glimpflichen Ausgang der
Sonderbundskrise werden in verschiedenen Beiträgen erörtert, welche die
Lernprozesse schildern, die in der Schweiz zwischen 1798 und 1848 eine
moderne «Konfliktkultur» entstehen liessen. Dies geschah durch die
Gewährleistung der Pressefreiheit als Basis demokratischer Lösungsfindung
(Christoph Guggenbühl), durch die Übernahme nationaler Themen in den
Meinungsstreit der - parteigebundenen - Zeitungen (Thomas Christian Müller),
durch die parlamentarische Kompromisspolitik, wie sie in den regenerierten
Kantonen seit 1830 eingeübt werden konnte (Andreas Suter), durch die
Bereitschaft zur Übernahme ausländischer, insbesondere amerikanischer
Verfassungselemente (Simon Netzle), aber auch durch die freisinnige
Konstruktion historischer Kontinuität zu den alteidgenössischen «Vätern»
(Matthias Weishaupt) und zu den antioligarchischen Revolten im Ancien Régime
(Andreas Würgler).
Andreas Ernst, Albert Tanner, Matthias Weishaupt (Hg.): Revolution und
Innovation. Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates
von 1848 (Die Schweiz 1798 bis 1998: Staat - Gesellschaft - Politik, Bd. 1).
Chronos-Verlag, Zürich 1998. 320 S., Fr. 48.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 07.09.1998 Nr. 206 29