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Revolution und Innovation
Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates von 1848
Die Schweiz 1798–1998: Staat – Gesellschaft – Politik, Band 1
Broschur
1998. 317 Seiten
ISBN 978-3-905312-66-9
CHF 48.00 / EUR 29.00 
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Diamantfeiern 1989, Fichenaffäre 1990, CH-91, EWR-Debakel 1992, "Schatten" des Zweiten Weltkrieges seit 1996, Grossfusionen und Globalisierung 1997: diese Stichworte verweisen auf Facetten einer Krisenlage, die nach vertiefter Auseinandersetzung mit den Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft ruft. Die Schweiz sieht sich seit einigen Jahren mit innenpolitischen Problemen und aussenpolitischen Herausforderungen konfrontiert, die grundsätzlicher Art sind und heute als krisenhafte Umbruchsituationen erfahren werden. In dieser Situation gilt es, Klärungs- und Lernprozesse zu fördern, die neue Handlungsmöglichkeiten und Reformspielräume aufzeigen und damit auch Entwicklungsperspektiven freilegen können. Die Besinnung auf 1848 soll zum Anlass genommen werden, um eine bisher kaum geführte Debatte zu dem über die Politik vermittelten innovationsoffenen Wechselverhältnis zwischen Gesellschaft und Staat zu führen und damit einen Beitrag zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben zu leisten. Dies macht Geschichtsschreibung auf neue Weise politisch relevant.
Der erste Band thematisiert Aspekte der Formationsphase von 1798-1848 und leistet einen Beitrag zur Erschliessung der erstaunlicherweise noch kaum aufgearbeiteten Vorgeschichte der Staatsgründung. Zwei weitere Bände befassen sich mit den Reformanforderungen und der Regenerationsfähigkeit der Zwischenkriegszeit (1918-1939) sowie der 60er und 70er Jahre. Ein vierter Band untersucht im Längsschnitt die Nationalisierung der schweizerischen Gesellschaft vom 18. bis zum 20. Jahrhundert.


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Besprechungen
Weshalb entstand der Schweizer Bundesstaat? Ein Sammelband zu «Revolution und Innovation» 1798-1848 tmn. Aus Anlass der Bundesjubiläen hat die «Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz» rund 100 Historikerinnen und Historiker in einem «Vermittlungsprojekt» vereint, das in kurzen, über vier Bände verteilten Aufsätzen Einblick gibt in schweizerische Krisenzeiten und die Ausbildung des schweizerischen Nationalstaats. Im ersten Band wird die Genesis des Bundesstaates von 1848 erörtert, einer verfassten Ordnung, die - so die Grundthese - es seither ermöglichte, «die Notwendigkeit eines steten Wandels mit den Kontinuitätsanforderungen eines Staatswesens auf produktive Weise zu vermitteln». Kampf um Wahrheit oder Binnenmarkt? Das Projekt trägt in mancher Hinsicht die Handschrift des Zürcher Wirtschaftshistorikers Hansjörg Siegenthaler, der selber keinen Beitrag beigesteuert hat, aber mit einigen Schülern und dem Konzept «Quellen der Wahrheit» präsent ist (vgl. auch NZZ 27./28. 6. 98). Worüber ereiferten sich die Zeitgenossen in den 1840er Jahren derart, dass sie schliesslich bereit waren, in einem Bürgerkrieg ihr Leben und den Bestand der Eidgenossenschaft aufs Spiel zu setzen? Die «idealistische» Position ortet den Konflikt in der Verunsicherung angesichts einer zunehmend unübersichtlichen Welt, in der um die grundlegenden Regeln der Wahrheitsfindung und der politischen Gestaltung gerungen wird. Was soll gelten: christliche Offenbarungsreligion oder wissenschaftlicher Rationalismus, überliefertes historisches Recht oder naturrechtlich begründetes Menschenwerk, einzelörtische Hoheit und kollektive Freiheiten oder nationale Souveränität mit individueller Freiheit? Die «materialistische» Position betont dagegen die Wirkungsmacht des sozioökonomischen Wandels. Der Bundesstaat als Binnenmarkt wird damit zum Produkt des wirtschaftlichen Vereinheitlichungsdrucks. Hans-Ulrich Jost formuliert diesbezüglich die These, bei allen auch politischen Differenzen über den «ökonomischen Diskurs» seien die Wirtschaftsakteure zur Übereinkunft gelangt, dass er auf einer höheren Ebene, nämlich derjenigen eines Nationalstaats, geführt werden müsse. Cédric Humair sekundiert am Beispiel der Zollvereinheitlichung: Die neuen wirtschaftlichen Eliten seien der Zwänge des Bundesvertrags von 1815 überdrüssig gewesen. Wie jedoch Margrit Müller und Patrick Halbeisen zeigen, bemühte sich etwa der Schweizerische Gewerbeverein um wirtschaftliche Vereinheitlichung im bestehenden Verfassungsrahmen, etwa durch Konkordate. Uneinheitliche Lager und Fronten Der «materialistische» Ansatz strapaziert die Dialektik, wenn es den listigen «Weltgeist» von ökonomischen Traktaten auf die individuelle Handlungsebene zu transportieren gilt. Eduard Blösch, der Präsident des Schweizerischen Gewerbevereins, oder der von Jost und Humair angeführte Thurgauer Christian Beyel-Mörikofer waren dezidierte Konservative: Sie strebten keinen Bundesstaat an, schon gar nicht um den Preis eines Bürgerkriegs, den sie vielmehr zu verhindern suchten, indem sie - zwischen den politischen Extremen vermittelnd - über wirtschaftliche Annäherung politisches Konfliktpotential abzubauen suchten. Eine von Humair als Belegstelle angeführte, aber unvollständig zitierte Aussage Philipp Anton von Segessers belegt gerade, worum es im Sonderbundskrieg tatsächlich ging: Der Luzerner Patrizier spricht von einem gordischen Knoten, der nur mit einem Schwert zerschlagen werden könne. Dabei denkt er überhaupt nicht an «les divergences d'intérêts économiques», sondern - von Humair übersehen - an die «Natur des Schweizerischen Staatskörpers»: Unaufschiebbar war 1847/48 die Klärung, welche politische Ordnungsvorstellung Gültigkeit beanspruchen dürfe. Dass diesbezüglich auch das unterlegene Lager keineswegs einmütig war, zeigt Marco Jorio: Die konservativen Föderalisten vom Schlage Segessers hatten mit den durchaus revolutionären Umgestaltungsplänen der «restaurativen Ultras» um Siegwart-Müller wenig gemeinsam. Letztere lagen in ihrem visionären Extremismus näher beim entgegengesetzten, radikalen Pol, dessen oft vernachlässigte katholische Wurzeln im aufklärerischen Antiklerikalismus Josef Lang aufzeigt. Ein Paradebeispiel für diese Tradition, den Aargauer Augustin Keller, interpretiert Andreas Ernst als «charismatische» Führerfigur. Ob allerdings Ernsts durchaus zutreffende Beobachtung, dass die «komplexe vertikale und horizontale Strukturierung der Schweiz» eine bedingungslose Polarisierung zwischen zwei Lagern verhinderte, diesen methodischen Umweg über Max Weber braucht, scheint fragwürdig: Mobilisiert wurden die Schweizer nicht durch Garibaldis oder Bismarcks, sondern durch «Sachfragen» - bedrohter Glaube hie, Jesuitengefahr dort. Entwicklung der politischen Kultur Gründe für den von Ernst betrachteten glimpflichen Ausgang der Sonderbundskrise werden in verschiedenen Beiträgen erörtert, welche die Lernprozesse schildern, die in der Schweiz zwischen 1798 und 1848 eine moderne «Konfliktkultur» entstehen liessen. Dies geschah durch die Gewährleistung der Pressefreiheit als Basis demokratischer Lösungsfindung (Christoph Guggenbühl), durch die Übernahme nationaler Themen in den Meinungsstreit der - parteigebundenen - Zeitungen (Thomas Christian Müller), durch die parlamentarische Kompromisspolitik, wie sie in den regenerierten Kantonen seit 1830 eingeübt werden konnte (Andreas Suter), durch die Bereitschaft zur Übernahme ausländischer, insbesondere amerikanischer Verfassungselemente (Simon Netzle), aber auch durch die freisinnige Konstruktion historischer Kontinuität zu den alteidgenössischen «Vätern» (Matthias Weishaupt) und zu den antioligarchischen Revolten im Ancien Régime (Andreas Würgler). Andreas Ernst, Albert Tanner, Matthias Weishaupt (Hg.): Revolution und Innovation. Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates von 1848 (Die Schweiz 1798 bis 1998: Staat - Gesellschaft - Politik, Bd. 1). Chronos-Verlag, Zürich 1998. 320 S., Fr. 48.-. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ. Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 07.09.1998 Nr. 206 29