Dass die im Sommer 1997 an der Zürcher Volkshochschule gehaltenen Referate eine vergleichsweise grosse Aufmerksamkeit gefunden haben, liegt nicht nur an deren rechtzeitiger Veröffentlichung und leichter Lesbarkeit. Die Mehrheit der Texte wirken tatsächlich so frisch, wie es die Titelseite des Buches verspricht. Statt Altbekanntes wiederzukäuen, werden neue Ansätze und Thesen gewagt. Schade ist nur, dass die Form der Ringvorlesung es nicht erlaubte, diese miteinander zu konfrontieren. Beispielsweise gewichtet Albert Tanners Beitrag über den Radikalismus die weltanschaulichen Konflikte um die «Ordnung der Dinge» (Michel Foucault) völlig anders als Christian Simons Vortrag über die Helvetik. Spannend wäre es auch, Elisabeth Joris' Beitrag über «Mündigkeit und Geschlecht», der den Bogen bis in die Gegenwart spannt, im Zusammenhang mit der liberal-laizistischen Emanzipation der Männer zu diskutieren. Beatrix Mesmer misst dem «Abbau der Verkehrs- und Handelshindernisse» eine grössere Bedeutung für die Gründung des Bundesstaates zu, als es die Wirtschaftshistorikerin Margrit Müller tut. Marco Jorios Bild vom Sonderbund unterscheidet sich stark von dem Carlo Moos'.
Auf deren beide Beiträge, die sinnvollerweise den Kulturkampf der 1870er Jahre einbeziehen, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen. Diese Auswahl ist ungerecht gegenüber den anderen AutorInnen, aber nur so ist es möglich, auf kleinem Raum etwas Substantielles zu sagen. Dass Jorio und Moos, die (wie übrigens auch der Rezensent) mit dem Katholizismus nicht nur als Forscher verbunden sind, das Weltanschauliche über das Wirtschaftliche stellen, kann nicht überraschen. Einerseits war die ideologische Auseinandersetzung innerhalb des damals noch nicht gleichgeschalteten Katholizismus besonders hart. Andererseits lässt sich die Scheidung der katholischen Schweiz in liberale und konservative Gegenden mit den ökonomischen Interessenlagen nur halbbatzig erklären. Das unterstreicht am deutlichsten der Tessin. Der wirtschaftlich rückständige Kanton war in den weltanschaulichen Auseinandersetzungen 1841-1847 ein zuverlässiger Partner des cismontanen Freisinns. 1848 aber, wo es mehr ums Praktische ging, lehnte er die Bundesverfassung wegen dem drohenden Verlust von Zolleinnahmen ab.
Jorio unterscheidet in seinem Beitrag über die «Gegenwehr der Konservativen» fünf «Grundtendenzen» innerhalb des damaligen Katholizismus. Auf die «Radikalen, Liberalen und das Ðjuste-milieuð» geht er aufgrund der Fragestellung nicht weiter ein. Allein der Umstand, dass er die Reformkatholiken ohne die sonst üblichen Abwertungen erwähnt, ist bemerkenswert. Die Sonderbundsseite unterteilt Jorio in zwei Strömungen: die ab den 1840er Jahren tonangebenden «restaurativen Ultras» und die «föderalistischen Konservativen». Jenen «schwebte die Schaffung einer katholischen Schweiz vor, die auf dem modernen Prinzip der katholischen Volkssouveränität basiert». Allerdings setzte die Bildung eines «quasi souveränen Ðcorpus catholicumð» die «territoriale Umgestaltung der Schweiz» voraus. «Die Erhaltung der Kantonalsouveränität war eigentlich nur Mittel zum Zweck.» Damit weist Jorio auch der neben dem Ökonomischen häufig in den Mittelpunkt gerückten politischen Fragestellung «Staatenbund oder Bundesstaat?» eine zweitrangige Bedeutung beim Ringen um den Bundesstaat zu. Die wichtigsten «Kampfinstrumente der Ultras» waren «die ideologisch-konfessionelle Aufrüstung der Katholiken» durch den Jesuitenorden, das «Gleichziehen mit den Protestanten durch die Gründung einer katholischen Universität» in Luzern, was erst 1889 in Freiburg gelang, und «die Schaffung eines zentralen Führungsorgans der katholischen Schweiz in Form des sonderbündischen Kriegsrates». Die «intellektuellen Ultras» sahen laut Jorio «ihren Kampf in einem europäischen Rahmen» und «waren bereit, mit den restaurativen Kräften zusammenzuarbeiten». Die «intellektuell bescheidenere» Mehrheit, die sich an den Bundesvertrag von 1815 klammerte, folgte Siegwart-Müller, um die kantonale Souveränität und mit dem Jesuitenorden eine offizielle Institution der Kirche zu verteidigen.
Anhand des Sturzes der Zürcher Liberalen im September 1839, welche «die Wende zum religiös motivierten Widerstand gegen die Bundesrevision einleitete», zeigt Jorio auf, dass es ähnliche Konflikte zwischen Aufklärung und «Erweckungsbewegung» auch innerhalb der protestantischen Welt gab. Richtigerweise bezeichnet er die Einschätzung durch Ernst Gagliardi, es habe sich beim Straussenputsch um eine «der sonderbarsten Grotesken in der Geschichte des 19. Jahrhunderts» gehandelt, als «diffamierend». Tatsächlich kann man die Dynamik und Thematik der Regeneration, vor allem der zweiten Halbzeit 1839-1847, nur verstehen, wenn man deren beide Hauptströmungen, den konfessionellen Fundamentalismus und den aufklärerischen Antiklerikalismus, wahr- und ernst nimmt.
Genau das tut Carlo Moos nicht beziehungsweise zu wenig. Er postuliert zwar ebenfalls einen «Paradigmawechsel», dank dem «die Rolle der Religion» stärker «fokussiert» werden soll. Seine «Bemerkungen zu Sonderbund und Sonderbundskrieg» «fokussieren» dann vor allem die «im Jakobinismus wurzelnden Radikalen», die all die Streitereien angefangen haben und an der politischen «Verhärtung» schuld sein sollen, und einen Konstantin Siegwart-Müller, der letztlich ebenfalls ein «Radikaler» gewesen sei; schliesslich zeichneten ihn «Fanatismus, Arbeitswut und Ehrgeiz» aus. Lag die Unerbittlichkeit der damaligen Auseinandersetzungen nicht eher in den Schlüsselfragen der Zeit: Ist eine Schweiz als Nation denk- und machbar, wenn sie statt auf einer laizistischen Verfassung auf zwei konfessionellen Körpern baut? Ist eine auf freien und gleichen Bürgern bauende Demokratie in einem mehrkonfessionellen Land möglich ohne überkonfessionelle Staatlichkeit?
Moos weicht diesen Alternativen aus. So bezeichnet er die gescheiterte «Bundesurkunde» von 1832/33 als «brauchbaren Entwurf», erwähnt aber die teils heftige klerikale Opposition dagegen nicht. Weil damit offensichtlich würde, dass der Konflikt zwischen Konfessionalismus und Laizismus bereits vor den Badener Artikeln (1834), den Klosteraufhebungen (1841) und der Jesuitenkampagne (1844-1847) stattfand. Die konservative Luzerner Verfassung von 1841 wird als eine «mit christlicher Ausrichtung» vorgestellt. Tatsächlich baute sie auf einem katholischen Fundament, das protestantischen Mitchristen keinen Platz bot. Siegwart-Müllers «Umbauplan der Schweiz», der unter anderem die Rekatholisierung des Berner Oberlandes und die Halbierung des Aargaus beinhaltete, wird relativiert mit dem Hinweis, dass er «zur Verwirklichung einen Sieg vorausgesetzt hätte, wie er selbst Siegwart-Müller so total nicht ernsthaft hatte vorschweben können». Hätte nicht allein der Versuch, solch unpraktikable «Vorstellungen» durchzusetzen, das Ende der Schweiz und erst recht das der Demokratie bedeutet? Im Zusammenhang mit der päpstlichen «Zusammenstellung der hauptsächlichsten Irrtümer unserer Zeit», einer kirchlich und politisch verhängnisvollen Kriegserklärung an den Liberalismus, spricht Moos vom «unglücklichen Syllabus Ðerrorumð von Papst Pius IX. aus dem Jahre 1864». War die sechs Jahre später folgende Unfehlbarkeitserklärung, welche dem päpstlichen Absolutismus die Krone aufsetzte, auch ein blosser Unglücksfall?
Die «restaurativen Ultras» haben auf der staatlichen Ebene verloren - gegenüber dem laizistischen Freisinn wie auch gegenüber den «föderalistischen Konservativen». Allerdings lassen sowohl Jorio als auch Moos unerwähnt, dass sie sich innerhalb der Kirche weitgehend durchgesetzt haben. Dass dies nicht nur milieu- und mentalitätsgeschichtlich, sondern auch politisch bedeutsam war, zeigte sich bereits in den Auseinandersetzungen um die Judenemanzipation in den 1860er Jahren. In diesem Zusammenhang erfanden im Piusverein organisierte «Ultras» wie Theodor Scherer-Boccard, ehemaliger Sekretär von Siegwart-Müller, den christlich-nationalistischen Antisemitismus, der dann später zum typisch schweizerischen werden sollte.
Es ist schade, dass die Forschung und die Diskussionen um die Regeneration und den Bundesstaat nicht enger mit den Debatten um die 30er und 40er Jahre dieses Jahrhunderts verbunden wurden. Am besprochenen Buch, dessen Umschlagbild eine «Volksversammlung» für eine offene Asylpolitik aus dem Jahre 1836 darstellt, lag es nicht.
Josef Lang (Zug)
traverse - Zeitschrift für Geschichte - Revue d'histoire 1999 / 01