Sammelbände sind oft Buchbindersynthesen. Nicht so dieses Buch, welches sein Entstehen einer Initiative aus der Glarner Gemeinde Mollis verdankt. Wie formierte sich der schweizerische Wohlfahrtsstaat? Welche Rolle spielten dabei die moderne Wissenschaft und ihre Träger? Unter diesen Fragen versammeln sich sehr interessante Untersuchungen zum ersten eidgenössischen Fabrikinspektor Fridolin Schuler (18321903) und zum leitenden Thema «Wissenschaft und Wohlfahrt».
In seiner Einleitung hält Hansjörg Siegenthaler fest, dass die Konzeptualisierung der «Sozialen Frage» und ihrer sozialstaatlichen Lösung als Ergebnis individuellen und kollektiven Lernens zu verstehen sei. Der Wohlfahrtsstaat erscheint kaum überraschend als ein Produkt der gesellschaftlichen und ökonomischen Krise der 1880er Jahre. Warum konnten selbst nicht direkt betroffene Individuen wie Schuler zu Trägern kollektiver Handlungen avancieren? Weshalb setzte sich die sozialstaatliche Expertokratie politisch durch? Siegenthaler antwortet: im Prozess fundamentalen Lernens entstand eine neue Alltagstheorie, die, durchtränkt von Konzepten neuer Wissenschaftlichkeit, der «kurativen Sozialpolitik» den Boden bereitet hat. Seine Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv bietet ausgehend von der Person Fridolin Schulers viel Raum für Überlegungen zu strukturellen Entwicklungen. In vielen Aspekten wird dargestellt, wie in der Schweiz eine «Expertokratie» entstanden ist. Warum aber die naturwissenschaftliche Wissensproduktion gegen Ende des letzten Jahrhunderts eine so wichtige orientierungsstiftende Funktion erhielt, bleibt in den meisten Beiträgen unklar.
Beatrix Messmer eröffnet den Sammelband mit einer kurzen Darstellung des komplizierten Verhältnisses von Medizin und Staat im 19. Jahrhundert. Es gelingt ihr, u. a. bei dem deutschen Physiologen Max von Pettenkofer sehr deutlich aufzuzeigen, dass die neue Wissenschaftlichkeit der Gesundheitspolitik sich nicht als Reaktion auf die Folgen der Industrialisierung verstand, sondern als eine das Wirtschaftswachstum unterstützende Parallelstrategie. Nicht nur funktioniert das leitende medizinische Paradigma des Metabolismus mit marktverwandten Tauschmetaphern, sondern die Gesundheit der Arbeitenden wurde direkt als Produktionsfaktor konzeptualisiert. Der «Aufklärer» Fridolin Schuler stand in dieser Tradition. Ökonomische Faktoren spielen auch im Artikel von Rolf Wolfensberger eine wichtige Rolle. Am Beispiel der Ernährung zeigt er, wie eng Wissenschaft und Wohlfahrt miteinander verbunden sind. Die «soziale Frage» wurde als «Magenfrage» thematisiert, gesundheitspolitisch führende Schweizer Ärzte setzten sich (anfänglich mit wenig Erfolg) für das Suppenmehl der Firma Maggi ein. Das Beispiel Eiweiss dient ihm dazu, die Ungleichzeitigkeiten aufzuzeigen, welche zwischen wissenschaftlichen Leitsätzen und popularisierten Wahrheiten auftreten können. Ganz ähnlich wie Wolfensberger für die Ernährungsdebatte, zeigt Jakob Messerli für die Arbeitszeitdiskussion, inwiefern wissenschaftliche Konzeptionen die politische Auseinandersetzung beeinflussten. Sowohl auf Seite der ArbeiterInnen als auch von Unternehmern wurde mit Erkenntnissen der «Wissenschaft und Erfahrung» argumentiert. Messerli stellt fest, dass «anstelle der individuellen moralischen Eigenschaften des Individuums nach und nach die physiologischen Eigenschaften des Körpers ins Blickfeld» traten.
Auch Jakob Tanner beschäftigt sich mit dem disziplinären Umfeld des Arztes Schuler. Der Übergang von humoralpathologischen Auffassungen zu einem kausaltherapeutischen Verständnis des «rationalen Medikaments» bezeichnet er als «therapeutische Revolution», in deren Verlauf ein erfolgloser Kampf gegen allerlei Kurpfuscherei zu einem sagenhaften Professionalisierungserfolg der Ärztezunft geführt hat. Staatliche Autorisierung, wie sie Fridolin Schuler als eidgenössischer Fabrikinspektor genoss, hat diesbezüglich eine entscheidende Rolle gespielt. Auch Tanner behandelt Fragen der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnis in diesem Prozess. Dabei zeigt er klar, dass sich Bewusstseinsinhalte nicht durch die Anhäufung populärwissenschaftlicher Erkenntnisse allein verändern, sondern nur in steter Wechselwirkung mit dem Wandel des Alltagslebens. Schuler ging es so Tanner um die «flexible Kombination einer industriegesellschaftlich Ðnachgerüstetenð Diätetik und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen». Dabei erscheint der Fabrikinspektor als ein dem Bestehenden verpflichteter Patriarch, der weniger auf die Kraft des Neuen, als vielmehr auf die Dynamik der Tradition setzt.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt Regina Wecker in ihrem Beitrag zum ArbeiterInnenschutz als Element der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten. Sie zeigt differenziert auf, wie die Schutzwürdigkeit der Frau in der Schweizer Gesetzgebung erst nach Schulers Abgang durch den Rekurs auf ihre körperliche Natur begründet wurde. Der politische Prozess, in welchem zunächst geschlechtsindifferente Schutzbestimmungen erlassen wurden, und erst später spezifische Regelungen für Frauen hinzu kamen, erscheint so als ein doing gender im Sinne Judith Butlers. Schuler war bezüglich der Konzeptualisierung von Geschlechtsidentität nicht den physiologischen Grössen seiner Zeit verpflichtet, welche eine natürliche Schwäche der Frau in allen arbeitsmarktrelevanten Tätigkeitsbereichen konstatierten. Vielmehr rekurrierte er in traditioneller Weise auf geschlechtsspezifische Aufgaben im Familienkontext.
Umfassende Einschätzungen der schweizerischen Fabrikgesetzgebung lägen bereits vor, meint Max Lemmenmeier, weshalb er sich auf die Rekonstruktion der konkreten Arbeit der Fabrikinspektoren konzentriert. Gerade eine Stunde hatten diese bei ihrem recht eindrücklichen Arbeitspensum pro Betrieb zur Verfügung. In seiner 24jährigen Tätigkeit gelang es Schuler, sowohl von seiten der ArbeiterInnen als auch von den Unternehmern recht wohlwollend beurteilt zu werden wenn er auch angesichts der Radikalisierung der Arbeiterschaft zunehmend als veralteter Patriarch galt. Lemmenmeier erklärt diesen relativen Erfolg durch das Vertrauen Schulers auf «die argumentative Kraft von wissenschaftlich-technischem Expertenwissen». Wie unsicher allerdings die argumentative Kraft des Expertenwissens in dem politisch so umkämpften Gebiet der sozialpolitischen Staatsintervention war, zeigt Barbara Koller in ihrer herausragenden Untersuchung verschiedener Wohnungsenqueten. Während sozialstatistische Untersuchungen in Zürich und St. Gallen gegen Ende des 19. Jahrhunderts institutionalisiert werden konnten, regte sich in Basel erfolgreicher Widerstand sowohl von ArbeiterInnen als auch von bürgerlicher Seite. Hier war zwischen dem Forschungsgang selbst und der anschliessenden Verwendung der Ergebnisse nicht konsequent genug getrennt worden. Vom methodischen Vorgehen so zeigt Koller hängt jene fiktive Neutralität ab, welche der Wissenschaft im Bereich der Wohlfahrt erst zu ihrer Macht verhalf. Solche wissenschaftstheoretische und -praktische Überlegungen fehlen im Beitrag von Iris Ritzmann weitgehend. Sie konzentriert sich auf die kritische Würdigung jener statistischen Studie Schulers über die berufs- und geschlechtsspezifische Sterblichkeit im Kanton Glarus, welche dem damaligen Fabrikarzt 1876 weitere Karriereschritte ermöglichte.
Während der Spezialist für Arbeitsrecht Jean-Fritz Stöckli in der Zeit Fridolin Schulers die erfolgreichen Kristallisationspunkte des modernen Arbeitsrechts findet, schildert Bernard Degen die erfolglosen Bemühungen um eine moderne Sozialversicherung. Die «lex Forrer», ein umfangreiches Bundesgesetz zur Kranken-, Unfall- und Militärversicherung, wurde 1900 in der Volksabstimmung ganz entschieden abgelehnt. Erklärungen für diese Innovatonsfeindlichkeit sind schwierig zu finden. In seiner abschliessenden Beurteilung des ganzen Sammelbandes vermutet Klaus Tenfelde, dass u. a. wegen der Abwesenheit der Bergbauindustrie als Leitsektor der Klassenbildung «das Herausforderungspotential der neuen Existenzrisiken durch den industriellen Strukturwandel in der Schweiz geringer war als anderswo». Die europaweite Führungsrolle der Schweiz in der Gesetzgebung zum ArbeiterInnenschutz wäre demnach vor allem durch das «unverkrampfte Verhältnis zwischen Regierung und Arbeiterbewegung» (Degen) zu erklären. Die ArbeiterInnenorganisationen waren in der Schweiz zu schwach, um «Reparaturmassnahmen zur Stabilisierung des Kapitalismus», wie sie das eidgenössische Fabrikgesetz und der Fabrikinspektor Fridolin Schuler verkörperten, effektiv zu bekämpfen. Diese These leuchtet ein, weil sie gleichzeitig erklärt, warum später die staatliche Existenzsicherung für Unselbständige in der Schweiz nicht mit der gleichen Vehemenz eingefordert wurde, wie in anderen europäischen Staaten.
Die Rolle der Wissenschaft und ihrer Träger gerät zwar bei den arbeitergeschichtlich orientierten Einwänden Tenfeldes aus dem Blickfeld. Aber gleichwohl sind wichtige Fragen zur Entstehung des schweizerischen Wohlfahrtsstaates formuliert Fragen, zu deren Klärung der ganze Sammelband entscheidende Beiträge zu liefern vermag. Auch wenn die Gründe für den entstehenden Glauben an die moderne Wissenschaft noch weiter ausgeführt werden müssten. In dieser Frage liegt ein interessanter Gegenwartsbezug, denn die wissenschaftliche Expertise scheint heute ihre orientierungsleistende Funktion für die Gesellschaft wieder zu verlieren.
Daniel Speich (Zürich)
traverse Zeitschrift für Geschichte Revue d'histoire 1999 / 03