Zwischen Liberalismus und Rückständigkeit
Luzerner Publikationen zum frühen 19. Jahrhundert
Wie in anderen Kantonen hat man auch in Luzern das Jubiläum «150 Jahre
Bundesstaat, 200 Jahre Helvetik» zum Anlass genommen, ein bisher wenig
beleuchtetes Kapitel der Kantonsgeschichte aufzuarbeiten. Zu diesem
Zeitabschnitt sind verschiedene Publikationen entstanden, darunter auch der
entsprechende Teil der Luzerner Kantonsgeschichte.
lin. Die Jahre 1798 und 1831 markieren im Kanton Luzern zwei nachhaltig
wirkende politische Umgestaltungen, die Helvetik und die Regeneration.
Dazwischen liegen drei Jahrzehnte des Lavierens, des Schwankens zwischen
restaurativen und modernistischen Tendenzen. Unter
verfassungsrechtlich-politischem Aspekt erscheint die erste Hälfte dieser
Zwischenzeit, die Mediation, eher der Helvetik anverwandt, die
Restauration dagegen eher am Ancien Régime orientiert. Andererseits haben
gerade die bäuerlichen Politiker der Mediationszeit das revolutionäre
Gedankengut der Helvetik, das eigentlich ihrem Stand zugute kommen sollte,
nur selektiv rezipiert und nur da verwirklicht, wo es mit ihren konkreten
wirtschaftlichen Interessen übereinstimmte.
Soziales und wirtschaftliches Verharren
Tatsächlich seien die Divergenzen, welche die Mediation und die Restauration
untereinander und gegenüber den revolutionären Einschnitten von Helvetik und
Regeneration abgrenzen, mehr gradueller als grundsätzlicher Natur, hält
Heidi Bossard-Borner, die Verfasserin des im Jubiläumsjahr erschienenen
Bandes der Luzerner Kantonsgeschichte «Im Bann der Revolution. Der Kanton
Luzern 1798-1831/50» als Ergebnis ihrer Forschungen fest. Kontinuität
gewährleistete etwa eine kirchlich motivierte Kritik am Rationalismus der
Aufklärung, die sich als Anhänglichkeit breiter Bevölkerungskreise zu einer
gegenreformatorisch-barocken Religiosität manifestierte. Auf politischer
Ebene wird das Erbe des Ancien Régime vor allem darin fassbar, dass ein
guter Teil der Politiker aus den alten Eliten - dem städtischen Patriziat
und den Honoratioren der Landschaft - stammte. Von der Dynamik der
Revolution profitierte in erster Linie die Bevölkerung der Landschaft, die
sich durch Bildung zu emanzipieren und aus ständischer Abhängigkeit von
Grund und Boden zu lösen vermochte.
Als Hypothek vererbten sich jedoch die strukturellen Schwächen der Luzerner
Wirtschaft. Die einseitige Ausrichtung auf die Landwirtschaft, der Mangel an
unternehmerischer Kapazität und Investitionsbereitschaft für industrielle
Produktionsformen und die Abhängigkeit der Heimindustrie und des
Manufakturwesens von auswärtigen Verlegern und Märkten führten dazu, dass
bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus grosse Teile der Bevölkerung
unmittelbar von Armut bedroht waren. Heidi Bossard-Borners Gesamtschau auf
die teilweise bereits durch frühere Forschungen bekannten Fakten der
Luzerner Wirtschafts- und Sozialgeschichte deckt ein in der Innerschweiz bis
jetzt noch wenig beleuchtetes historisches Untersuchungsgebiet ab und
liefert auch Hinweise zu Strukturen in den anderen Zentralschweizer
Kantonen, wo solche Forschungen bisher noch fehlen.
Die Mentalitäten des Sonderbunds
Ebenfalls dieser komplexen historischen Phase galt ein Symposium der
Historischen Gesellschaft Luzern. Die Vorträge sind in deren diesjährigem
Jahrbuch versammelt. Neben Heidi Bossard-Borner, die darin vor allem die
Aspekte zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aus ihrem Buch herausgreift,
beleuchten Carlo Moos und Markus Ries die konfessionell-religiöse
Mentalitätsgeschichte, die zu einem Sonderbund mit Bürgerkrieg führen
konnte. Carlo Moos nimmt sich dabei das weltanschauliche Fundament des
«Chefideologen» des Sonderbunds, Constantin Siegwart-Müller, vor und
versucht, aus dessen Rückschau «Der Kampf zwischen Recht und Gewalt in der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und mein Anteil daran» (1864) eine
allgemeine konservativ- paternalistische politische Haltung für die 1840er
Jahre zu rekonstruieren. Markus Ries untersucht vor allem den Kirchenalltag
im frühen 19. Jahrhundert, das Zurücknehmen der zaghaften kirchlichen
Neuerungen und die verstärkte moralische Kontrolle durch die Kirche nach dem
konservativen Umschwung im Kanton Luzern im Jahr 1841.
Neue Wege der Geschichtsvermittlung
Geschichtsschreibung fusst auf historischen Zeugnissen, aus denen
Darstellungen und Interpretation erwachsen. Das kritische und in neuen
Zusammenhängen auch immer wieder andere Lesen von Quellen hat bei den
Historikerinnen und Historikern des Forschungsprojektes «Innerschweizer
Volks- und Elitekultur 1798-1848» an der Universitären Hochschule Luzern zum
Wunsch geführt, einen Band von Texten zum gesellschaftlichen Umbruch in der
Innerschweiz nach 1798 herauszugeben. Unter dem Titel «Welch ein Leben!»
sind Quellen wie Briefe und Verhörprotokolle versammelt, die bewusst nicht
interpretiert werden, jedoch in ein interpretiertes Umfeld gestellt sind.
Sie betreffen drei Themenkreise aus der Zeit der Helvetik und der
nachfolgenden Jahrzehnte. Sie zeigen Heimatlosigkeit und ländlichen
Widerstand gegen die helvetische Verfassung und vermögen das Gefühl von
Unsicherheit, falscher oder unvollständiger Information und Misstrauen, das
in jener Umbruchzeit in der Bevölkerung herrschte, direkt zu vermitteln.
Ebenso veranschaulichen Briefe, die in der städtischen Oberschicht der
verschiedenen Kantone hin und her gingen, den schriftlichen Austausch über
politische Neuigkeiten, bei dem Kantonsgrenzen, Geschlecht und religiöse
Bekenntnisse eine geringere Rolle spielen als erwartet.
Eine geschlechtergeschichtliche Sicht auf die politischen Gegebenheiten
zwischen 1798 und 1848 bietet die Publikation «Mit Pfeffer und Pfiff.
Luzernerinnen zwischen 1798 und 1848», welche zugleich die Zusammenfassung
der diesjährigen Luzerner Frauenstadtrundgänge in Buchform bildet. Die
Beiträge dieses bebilderten Bandes gehen der Frage nach, wie und in welchen
Punkten die Frauen von den Umwälzungen des frühen 19. Jahrhunderts betroffen
waren.
Heidi Bossard-Borner: Im Bann der Revolution. Der Kanton Luzern
1798-1831/50. Rex-Verlag, Luzern 1998. 350 S., Fr. 58.-.
Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Luzern 16/1998. Bestellung:
Staatsarchiv, Postfach, 6000 Luzern 7. Fr. 35.-.
Brigitte Baur, Evelyn Boesch, Lukas Vogel (Hrsg.): «Welch ein Leben!»
Quellentexte zum gesellschaftlichen Umbruch in der Innerschweiz nach 1798.
Chronos-Verlag, Zürich 1998. 160 S., Fr. 32.-.
Evelyn Boesch, Barbara Gerhardt: Mit Pfeffer und Pfiff. Luzernerinnen
zwischen 1798 und 1848. Rex-Verlag, Luzern 1998. Fr. 29.80.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung LITERATUR 16.01.1999 Nr. 12 16