Die Schweiz und die Juden 1933–1945

Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik

Gebunden
1997. 3. Auflage 1997.
560 Seiten
ISBN 978-3-905311-22-8
CHF 68.00 / EUR 38.00 
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Das flüchtlingspolitische Kapitel der Schweizer Geschichte im Zweiten Weltkrieg ist von der Geschichtsforschung bereits aufgehellt worden. Die Studie von Picard bringt eine andere Dimension in den Blick: den Zusammenhang von schweizerischer Judenpolitik und internationaler Migrationspolitik.
Das Verhältnis der Schweiz zu ihren eigenen wie zu den fremden Juden wird anhand eines Drei-Kreise-Modells erörtert: im äussersten Kreis die internationale Szene, vorab das Dritte Reich, das faschistische Italien und die westlichen Alliierten; in einem mittleren Kreis die Schweiz, geprägt von judenfeindlichen Haltungen und einer aussenpolitischen Strategie der Anpassung und Beschwichtigung; und in einem inneren Kreis die jüdische Minderheit, die diesem doppelten Druck standzuhalten versucht und wiederum ihre eigenen Flüchtlinge zu versorgen und zu disziplinieren gezwungen ist.
Der erste Teil der Studie kreist um die Mentalitätsgeschichte des Antisemitismus, der von der «Judenfrage» des 19. Jahrhunderts zu den faschistischen Fronten und der behördlichen Politik der Vorkriegs- und Kriegszeit verfolgt wird. Die bundesrätliche Politik der Entsorgung der Affäre um den J-Stempel in den fünfziger Jahren wird zum Anlass genommen, neue Aspekte und Fragen aufzudecken, unter anderem die eidgenössische Haltung gegenüber dem Schutz von Schweizer Juden im Ausland, die quasi zwangsweise Finanzierung der schweizerischen Flüchtlingspolitik durch die Juden selbst oder die Abweisungen an der Grenze von jüdischen Schweizerinnen, die mit einem Ausländer verheiratet waren.
Der zweite Teil ist der innerjüdischen Geschichte gewidmet. Die Strategie der jüdischen Gemeinden, der antisemitischen Stimmung durch einen Rückzug in die Unauffälligkeit zu begegnen, weckte die innerjüdische Opposition, die mehr kämpferisch und auch ideologisch vorgehen wollte. Zum Verständnis dieser vielfältigen Strömungen innerhalb des schweizerischen Judentums werden die zahlreichen lokalen und internationalen jüdischen Organisationen analysiert.
Besonderes Interesse finden folgende Fragen: Wie agierten und reagierten die jüdischen Verbände gegenüber der schweizerischen Flüchtlingspolitik? Was geschah beim Bekanntwerden des Holocaust? Welche Rettungsaktivitäten gab es, und wo war die Grauzone zwischen legalem und illegalem Handeln?

ist Branco-Weiss-Professor für Kulturanthropologie und Ordinarius für Jüdische Geschichte und Kulturen der Moderne an der Universität Basel.


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Pressestimmen

«Ein Standardwerk, das 1997 in der 3. Auflage erscheint. Schweizerischer Antisemitismus und die Flüchtlingspolitik werden wissenschaftlich hochstehend und sehr gut lesbar dargestellt.»
Facts


«Besonders das Kapitel über die Schweizer Flüchtlingspolitik besticht durch seinen Informationsgehalt: Das Buch ist so notwendig wie aufregend.»
Die Zeit


«Noch nie hat das Verhältnis der Schweiz zu den Juden und noch nie das Verhältnis der Juden zur Schweiz eine so ausgreifende Darstellung gefunden wie im Buch von Jacques Picard.»
Neue Zürcher Zeitung


«Seine Analyse der ‹Verschweizerung des Antisemitismus›, die in einer Stilisierung gewisser Unterstellungen (kulturelle Fremdartigkeit, Weltverschwörung, etc.) und gleichzeitiger Tabuisierung (Betonung von Rechtsgleichheit, Abwehr des deutschen Nationalsozialismus) besteht, ist brillant und überzeugend.»
Prof. Beatrix Mesmer, Bern


«Ich denke, wir hätten den Schaden, den unser Land jetzt an der internationalen Nazigold-Debatte nimmt, vermeiden können, wenn wir uns im Gedenkjahr des Kriegsendes nicht nur mit unserem Überlebensmythos befasst, sondern zum Beispiel Bücher gelesen und ernst genommen hätten wie dasjenige von Jacques Picard.»
Die Weltwoche


Besprechungen

«Eine erste Konferenz im Bundeshaus ergab, dass man behördlicherseits darauf rechne, dass die Judenschaft der Schweiz sich darüber klar sei, dass es sich bei der Betreuung der jüdischen Flüchtlinge, der Bearbeitung ihrer Weiterreise und den finanziellen Folgen in erster Linie um eine Sache des Judentums der Schweiz handle.» (S. 368) So schrieb ein jüdisches Hilfswerk im Rückblick auf das Jahr 1938, um seine enorm gestiegenen Ausgaben nach dem «Anschluss» Österreichs an Nazi-Deutschland zu erklären. Denn die Juden der Schweiz – eine verschwindend kleine Minderheit von rund 20'000 Menschen – sahen sich gezwungen, die eidgenössische Flüchtlingspolitik zu finanzieren. Andernfalls würde man, hatte ihnen die Bundesbürokratie gedroht, die Grenze vor ihren zufluchtsuchenden Brüdern und Schwestern verschliessen.
So finanzierten die Juden die helvetische Humanität. Die Behörden versäumten nicht, die Aufnahme von Flüchtlingen abzulehnen, weil man auf die beschränkte Finanzkraft der Juden Rücksicht nehmen müsse... In der Tat waren die Kräfte der einheimischen Juden, so bewundernswert ihre enormen Anstrengungen, ungenügend. Sie waren angewiesen auf die grosse Unterstützung durch das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC). Zusammen mit anderen jüdischen Hilfswerken pumpte das JDC seit 1939 total 44 Millionen Franken ins Rettungsboot. Im Sommer 1942 blockierte die Schweizerische Nationalbank den Dollarzufluss. Die jüdischen Hilfswerke konnten nicht mehr zahlen. Zwei Tage später, am 13. August, sperrten die Behörden die Grenzen.
Ausführlich beschrieben hat diese infame und rassistische finanzielle Erpressung Jacques Picard. Dies ist aber nur ein Aspekt seiner vielschichtigen Studie. Sie erhellt das Verhältnis der Schweiz zu ihren eigenen wie fremden Juden, den Zusammenhang von schweizerischer Judenpolitik und internationaler Migrationspolitik – Dimensionen, die die Geschichtsschreibung bisher kaum beachtet hat.
Picard hat sich viel vorgenommen, aber die Aufgabe souverän und genau gelöst. Dabei sind die Strukturen komplex, die Ereignisse vielfältig und ineinander verwoben. Zur Orientierung skizziert er das Modell dreier Kreise: Den äussersten Kreis bildet die internationale Szene, vorab das Dritte Reich, das als kriegführende Grossmacht enormen Druck auf die Schweiz ausübt, weiter das faschistische Italien und die westlichen Alliierten. In einem mittleren Kreis steht die Schweiz, geprägt von judenfeindlichen Haltungen und einer aussenpolitischen Strategie der Anpassung und Beschwichtigung. Im innersten Kreis schliesslich sind die Juden. «Sie sollen keinen Anlass bieten, den Nazistaat zu reizen, und gleichzeitig müssen sie die eidgenössische Politik stillschweigend befolgen, um, so das Argument, keinen Antisemitismus zu provozieren.» (S. 20)
Die Arbeit besteht aus zwei Hauptteilen. In der ersten Hälfte untersucht der Autor das Verhältnis der Schweiz zu den Juden. Zunächst verfolgt er den schweizerischen Umgang mit dem antisemitischen Konstrukt der «Judenfrage». Er thematisiert die Genese und Funktion der Judenfeindschaft im Kleinstaat, den Frontismus samt Umfeld, die antisemitischen Muster in der behördlichen Fremden- und Flüchtlingspolitik, die Versuchungen des Antisemitismus bei den Kirchen. Einleuchtend, wie er den helvetischen Antisemitismus als «verschweizert» bezeichnet, da er eigenständige Merkmale besass, so seine Tabuisierung angesichts der nazideutschen Bedrohung.
Als Indikator für antisemitisches Denken und Handeln erweist sich die jüdische Abwehr selber, die er anschliessend darstellt. Schliesslich zeigt er die Politik der Behörden und der Schweizer Juden im In- und Ausland in konkreten Fällen. Dabei erhält teilweise bereits Bekanntes gründliche Vertiefungen und gelungene Interpretationen, so die Entsorgung der Vergangenheit im Anschluss an die J-Stempel-Affäre, die doppelte Diskriminierung der jüdischen Schweizerinnen oder die deutsche Politik der «Arisierung» in der Schweiz.
Besonders interessant sind Picards Antworten auf die Frage, wie weit die Schweiz ihre jüdischen Staatsbürger im faschistischen oder nazionalsozialistischen Ausland geschützt hat. Gänzlich unbekannt war mir die Ordre public-Affäre: Nachdem Frankreich die Juden wirtschaftlichen Diskriminierungen unterworfen hatte, musste eine Äusserung von Bundesrat Pilet-Golaz im September 1941 die Schweizer Juden alarmieren. Der Bundesrat war offenbar gewillt, im französisch-schweizerischen Verhältnis die Gleichbehandlung seiner jüdischen Bürger preiszugeben. Die Juden mussten ihre Emanzipation, die sie im letzten Jahrhundert nur mühsam hatten erringen können, als gefährdet ansehen. Zu Recht weist Picard auf die Parallele im J-Stempel-Abkommen mit Deutschland hin: Auch dort hatte der Bundesrat die jüdische Gleichberechtigung in Frage gestellt, indem er eine Reziprozitätsklausel akzeptiert hatte.
Im zweiten Teil der Studie konzentriert sich Picard auf die Juden selber. Zuerst gibt er eine eingehende Übersicht über das «Schweizer Judentum». Man ist froh darum, ist dieses doch ausserordentlich heterogen, es umfasst «säkulare und religiöse, liberale und sozialistische, zionistische und assimilationistische, west- und ostjüdische, eingesessene und zugezogene, schweizerische und ausländische» Teile. (S. 19)
Im Krieg wurde die Schweiz zu einer verschonten Insel, die sich als Drehscheibe für umfangreiche internationale Aktivitäten anbot. Dadurch kam ihr für die jüdische Geschichte eine grosse Rolle zu. Dies zeigen die hiesigen Aktivitäten der zahlreichen nationalen wie internationalen jüdischen Organisationen. Von der Schweiz aus halfen sie unermüdlich den notleidenden und sterbenden Juden in den besetzten Gebieten. Sie planten und organisierten Menschenschmuggel in das Rettungsboot, nicht zuletzt für viele Kinder. Sie betrieben legale und illegale, erfolgreiche oder gescheiterte Auswanderungsprojekte in sichere Regionen. Nicht vergessen seien die enormen und schwierigen Betreuungsarbeiten für Flüchtlinge im Inland.
Die meisten dieser Arbeiten waren Formen jüdischen Widerstands gegen die Naziverbrechen; eindrücklich strafen so Picards Schilderungen das Gerede von der jüdischen Passivität Lügen. Unpassend hingegen wäre die Bezeichnung Widerstand für die Haltung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), der sich als Repräsentant der in der Schweiz lebenden Juden verstand. Selber machtlos, sieht der SIG nur eine politische Strategie: Ein jüdisches «Niedrigprofil in der politischen Öffentlichkeit, die innere Einheit und Disziplinierung in den eigenen Reihen sowie eine enge Kooperation mit der Regierung, um die Interessen der Schweizer Juden und der jüdischen Flüchtlinge soweit als möglich wahrzunehmen». (S. 280)
Nach Picard war dieses «Niedrigprofil» vor 1945 ohne Alternative. Seine Schilderungen zeigen aber deutlich, wie hoch der Preis war: Immer wieder instrumentalisierte die Bundesbürokratie die Juden für ihre Zwecke. Tatsächlich oder angeblich verwickelten sich die Juden in verschiedene antijüdische Massnahmen, so bei der Einführung einer Sondersteuer, die die Juden diskriminierte, bei der Errichtung der fragwürdigen Arbeitslager oder bei der restriktiven Aufnahmepraxis. Mit der Grenzschliessung im August 1942 schliesslich wurden die still kooperierenden Juden von Bern vollends verraten. Prompt brachen im Gemeindebund schon lange schwelende, schwere interne Konflikte aus; die Haupträger der bisherigen Politik mussten gehen.
Picards Untersuchung zeichnet sich aus durch grosse Übersicht über komplexe Prozesse und eine differenzierte Argumentation, die auch geschickt theoretische Erklärungen berücksichtigt. Der Aufwand an Archiv- und Literaturstudien ist beeindruckend. Besonders wertvoll ist seine Arbeit aus zwei Gründen. Erstens liefert er einen wichtigen Beitrag zur jüdischen Historiographie, zur Geschichte der Juden in der Schweiz. Dabei tabuisiert er auch ihre Widersprüche, Konflikte und Dilemmas nicht. Vermisst habe ich allerdings eine schärfere Analyse des zentralen Assimilationspostulates. Gerade am Beispiel der Juden liesse sich sein eigentlicher Charakter zeigen: Es ist ein Herrschaftsinstrument par exellence. Immer bestimmen die machthabenden Eliten die Norm, und wann diese erfüllt ist; die Minderheiten verinnerlichen sie zuweilen bis zur Selbstverleugnung und völligen Unterwerfung. In radikaler Form illustriert das ein Fall, den Picard nicht erwähnt: Der SIG-Präsident Mayer war selber bis Dezember 1942 Mitglied des einflussreichen antisemitischen und flüchtlingsfeindlichen Vaterländischen Verbandes.
Unentbehrlich ist Picards Studie zweitens, weil nun erstmals eine der entscheidenden Bedingungen der damaligen Flüchtlingspolitik die ihr gebührende Aufmerksamkeit erhält: der Antisemitismus. Denn die Schweizer Flüchtlingspolitik war, dies zeigt Picard eindrücklich, eine Form von «Judenpolitik», eine antijüdische Flüchtlingspolitik. Eine ganze Jahrhunderthälfte musste man warten, bis ein Historiker, nicht zufällig ein jüdischer, diesen Sachverhalt systematisch erforschte! Mit diesem Versäumnis konfrontiert zu werden erschreckt – und erhellt zugleich: Picards Beitrag markiert das Ende einer Geschichte. Erst jetzt, wo wir dieses vormals unbekannte Ende kennen, ist es möglich, eine neue Geschichte zu erzählen. Was ein «erhellendes Ereignis enthüllt, ist», so Hannah Arendt, «ein bis dahin verborgener Anfang in der Vergangenheit; dem Auge des Historikers kann das erhellende Ereignis als nichts anderes erscheinen denn als ein Ende dieses neu entdeckten Anfangs.» Vom Ende zum Anfang, von einer blinden Schweizer Historiographie zu einer dunklen Vergangenheit führt eine direkte Spur.

Stefan Mächler (Zürich)

Traverse 1995/1 (160-163)