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Die Urner Magistratenfamilien
Herrschaft, ökonomische Lage und Lebensstil einer ländlichen Oberschicht 1700–1850
Broschur
1991. 419 Seiten, 8 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905278-86-6
CHF 48.00 / EUR 27.00 
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Direkte Demokratie und Herrschaft der wenigen! Dieser Widerspruch bildet den Ausgangspunkt einer breit angelegten Studie über den Lebens- und Regierungsstil einer regionalen Elite im 18. und im frühen 19. Jahrhundert. Am Beispiel der Urner Landsgemeindedemokratie zeigt der Verfasser auf, wie sich eine hochprivilegierte Sozialgruppe im Ancien régime an der Macht hält und selbst den tiefgreifenden Strukturwandel an der Schwelle zum 19. Jahrhundert überlebt. Dabei werden auch Veränderungen von schwer fassbaren Verhaltens- und Bewusstseinsbereichen herausgearbeitet: Prestige und soziale Ehre, Heiratsstrategien, Berufsambitionen, religiöse Einstellungen, soziopolitische Ideologien, gesellschaftliche Umgangsformen bis hin zu kulturellen und geselligen Bedürfnissen.
Die Arbeit geht über den Versuch einer blossen Kollektivbiographie weit hinaus: Weil die Analyse in einen gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet bleibt, vermittelt sie neue Einsichten in das innere Gefüge eines Landsgemeindekantons mit seinen direkt-demokratischen Eigentümlichkeiten und mit seiner spezifischen Ausprägung sozialer Ungleichheit.

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URS KÄLIN DIE URNER MAGISTRATENFAMILIEN HERRSCHAFT, ÖKONOMISCHE LAGE UND LEBENSSTIL EINER LÄNDLICHEN OBERSCHICHT, 1700-1850 CHRONOS VERLAG, ZÜRICH 1991, 420 S., 8 ABB., FR. 48.- Einfluss, Macht und Herrschaft konzentrierten sich in Uri im 18. und 19. Jahrhundert im kleinen Gremium der Vorsitzenden Ämter. In diese Ämter gelangten jedoch jeweils nur die Männer aus ein paar wenigen Familien oder Geschlechtern. Allein die sieben bedeutendsten Familien oder besser Familienclans stellten 77 Prozent aller Vorsitzenden Herren. Oftmals wurden die Ämter trotz Landsgemeinde subjektiv als erblicher Familienbesitz , ja als Privateigentum betrachtet. Die Herrschaft dieser wenigen beruhte auf einem «lukrativen Geflecht von Amtstätigkeit, Pensionenwesen und Solddienst». Verwandtschaft und eng begrenzte Verkehrs- und Heiratskreise, aber auch die räumliche Konzentration im Hauptort formten aus diesen Magistratenfamilien eine mehr oder weniger kompakte, gegen unten abgeschlossene, aber für aufsteigende Familien nicht völlig undurchlässige Oberschicht. Die gemeinsame Ehre, das gleiche Prestige, ein Lebensstil mit ähnlichen Wertorientierungen und Verhaltensmustern sorgten für einen festen sozialen und kulturellen Zusammenhalt und für eine klare Abrenzung gegen unten. Ehre - in der vorindustriellen, ständischen Gesellschaft die wichtigste Achse sozialer Ungleichheit - und Prestige sicherten ihnen aber auch wieder den Zugang zu den Schlüsselpositionen in Wirtschaft und Politik, sie sicherten ihre politischen Privilegien genauso wie ihre privilegierten Einkommens- und Vermögenchancen. Was Urs Kälin so eindrücklich und theoretisch fundiert für die ländliche Gesellschaft von Uri aufzeigt, war in der Schweiz des Ancien Régime alles andere als ein Einzelfall. Denn vom 15. bis zum 18. Jahrhundert hatten nahezu alle Orte, Städte wie Länder, ihre typischen «herrschenden Klassen». Tatsächlich wurden alle Länder- wie Städteorte im 18. Jahrhundert bis zur Helvetischen Revolution von 1798 von einer mehr oder weniger schmalen und mehr oder weniger dicht gegen unten, d. h. gegen die mittleren Bevölkerungsschichten, abgeschlossenen politischen Elite regiert. All dies, obwohl im Unterschied zu den meisten europäischen Staaten und Regionen in den Länderorten und Städten der Alten Eidgenossenschaft der Adel schon im 15. Jahrhundert jede wirtschaftliche, soziale und politische Bedeutung verloren hatte und die herrschaftliche Verfassung durch eine von Stadtbürgern oder Bauern selbst getragene gesellschaftliche und staatliche Ordnung ersetzt worden war. Doch trotz Landsgemeindedemokratie oder städtischer Verfassungen, die den Bürgern politische Mitwirkung garantierten, vermochten sich auch unter den neuen, nicht mehr feudalen Verhältnissen immer wieder einige wenige Familien für längere Zeit in den Vordergrund zu schieben. Zu deutlich umrissenen Familien- und Geschlechterherrschaften kam es jedoch erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts, als es in den regierenden Städten wie in den Länderorten einer immer beschränkteren Anzahl von Geschlechtern und Familien gelang, die Räte zu beherrschen, die wichtigen Landes- und Verwaltungsämter und hohen Offiziersstellen für sich allein in Anspruch zu nehmen und sie teilweise gar erblich zu besetzen. Von Ausnahmen abgesehen, erreichten diese «hochwohlgeborenen Herren» - so haben sie sich selbst gesehen und so wurden sie auch von den anderen bezeichnet - zwar nie die Ebenbürtigkeit zum Adel der feudal-monarchischen Staaten, aber auch ihre Herrschaft beruhte auf Besitz, Geburt und Herkunft; sie stellten, mehr oder weniger ausgeprägt, so etwas wie eine neue Aristokratie dar. Vielerorts besass diese Aristokratie aber doch einen stark bürgerlichen Charakter, sie war mehr Bourgeoisie als Aristokratie. Vor allem in Genf, Basel und Zürich, aber auch in den industrialisierten Länderorten Appenzell Aussserrhoden und Glarus sowie im Fürstentum Neuenburg beruhten ihr Wohlstand, ihr Ansehen und ihre politische Stellung auf wirtschaftlichem Erfolg, auf Kapital sowie einer spezifisch bürgerlichen Art von Wissen und Fähigkeiten, also auf Grundlagen, die markt- und leistungsbezogen waren. Doch nicht alle «Herren» der alten Schweiz waren schon mehr oder weniger zu Bürgern geworden, bevor überhaupt neue bürgerliche Klassen wie das ländlich-dörfliche und kleinstädtische Unternehmertum und ein akademisches Bildungsbürgertum nach oben und an die Macht drängten. Am wenigsten bürgerlich waren neben den Angehörigen der Patriziate wohl die ländlichen Magistratenfamilien, die viel stärker dem Ideal ständischer Ehre und Lebensführung verpflichtet waren und einer im Kern mehr adeligen als bürgerlichen Sozialmoral anhingen. Sie zeigten gegenüber der im bürgerlichen Leben hohen Dominanz von Leistung, Arbeit, Beruf und Bildung eine recht grosse Distanz. Dagegen genoss der Grund- und Landbesitz weiterhin auch aus nicht-ökonomischen Gründen hohe Wertschätzung. Vor diesem Hintergrund wird denn auch verständlich, warum die ländlichen Magistraten wie auch viele städtische Patrizier in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Mühe bekamen, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen und wirtschaftlich zu behaupten. Dies umso mehr, als mit dem Niedergang des Solddienstes neben dem Verlust der einträglichen Verwaltungsämter in den Untertanenengebieten durch die Helvetische Revolution auch ihre zweite wichtige Einkommensquelle versiegte. Nach der katastrophalen Niederlage im Sonderbundskrieg und mit der Gründung des Bundesstaaates von 1848 gerieten sie politisch, wirtschaftlich und sozial vollends in die Defensive. Dies galt, wie Urs Kälin im letzten Teil seiner Arbeit aufzeigt, auch für die Urner Magistratenfamilien, die im Lande selbst zwar ihre politische Macht mehr dennn je behaupten konnnten, aber zumindest ökonomisch und in der Berufsfindung recht stark unter Druck kamen. Sie zeigten etliche Mühe, die neuen Erwerbs- und Marktchancen zu nutzen und damit wie die bürgerlichen Mittelklassen, aber auch wie ein grosser Teil der Angehörigen der aristokratischen Bourgeoisie Zürichs, Basels und Genfs, auch in der neuen, der bürgerlichen Gesellschaft sich einen Platz in den oberen Rängen zu sichern. Den Preis für ihre noch stark in vorkapitalistischen Werten verhaftete Wirtschaftsgesinnung und für ihr innovationsfeindliches, eher defensives Investitions- und Wirtschaftsverhalten zahlten die ländlichen Magistratenfamilien mit einer relativen ökonomischen Verschlechterung ihrer Lage und gesamtschweizerisch mit einem Verlust an Einfluss, Macht und Ansehen. Das Verhalten dieser alten Eliten hatte jedoch auch einschneidende Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der betreffenden Region. So dürfte eine der Ursachen für die wirtschaftliche Rückständigkeit Uris im 19. Jahrhundert auch bei den Magistratenfamilien zu suchen sein, die nicht nur selbst wirtschaftlich kaum oder nur wenig innovativ waren, sondern in der ersten Hälfte des Jahrhunderts auch noch das neue, durch Handel angehäufte Kapital des Altdorfer Wirtschaftsbürgertums über Heiraten absorbierten und es so der produktiven Verwertung ebenfalls teilweise entzogen. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im sozialen und kulturellen Bereich, ganz besonders aber in der Politik dürften sie ihren Teil zum Beharrungsvermögen alter Strukturen und Werthaltungen beigetragen haben. Politisch noch lange an der Macht, zementierten sie mit ihren paternalistischen Herrschaftspraktiken alte soziale und politische Abhängigkeiten. Indem sie mit ihren Wert- und Verhaltensmustern, ihrer Bildungsfeindlichkeit und konservativen, ja antimodernen Haltung auch die übrige Gesellschaft prägten und durchdrangen, verhinderten oder verzögerten sie das Aufkommen neuer bürgerlicher Leitbilder und Verhaltensmuster, aber auch das Aufkommen liberaler Tugenden wie Toleranz, Diskussions-, Konflikt- und Kompromissbereitschaft, ohne die eine bürgerlich-liberale und erst recht eine demokratische Gesellschaft nicht bestehen kann. Mit seiner Geschichte der Urner Magistratenfamilien, die den Herrschafts- und Regierungsstil, die wirtschaftliche Basis, die kulturellen Verhaltens- und Orientierungsmuster dieser herrschenden Klasse immer in sehr enger Beziehung sowohl mit der politischen Ordnung der Landsgemeindedemokratie als auch mit der stark von der Markgenossenschaft geprägten Urner Wirtschaft und Gesellschaft analysiert, hat Urs Kälin seinen Anspruch, die kollektive Biographie einer Sozialgruppe als Gesellschaftsgeschichte zu schreiben, erfüllt - mehr noch, sein Buch über die Urner Magistraten ist auch eine Geschichte der Gesellschaft Uris an der Wende und auf dem Weg zur Moderne. Albert Tanner (Bern) Traverse 1994/1 (158–161)