Ausländer- und Asylpolitik vor der Nazizeit
Die Rollen von Heinrich Rothmund und Bundesrat Häberlin
Die gegenwärtige intensive Diskussion über die Rolle der Schweiz und vor
allem auch über ihre Flüchtlingspolitik vor, während und nach dem Zweiten
Weltkrieg wirft automatisch die Frage auf, mit welchen politischen Vorgaben
die Schweiz in diese höchst kritische Zeit hineinging. Das bisher
vorhandene historische Vakuum ist vor kurzem durch eine umfassende
wissenschaftliche Arbeit von Uriel Gast, «Von der Kontrolle zur Abwehr. Die
eidgenössische Fremdenpolizei im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft
1915-1933», ausgefüllt worden. Das informative Werk schildert auf Grund
zahlreicher ungedruckter und gedruckter Quellen detailliert die Anfänge
einer eidgenössischen Ausländerpolitik, das Auf und Ab im Spannungsfeld der
Interessen und Meinungen und hält auch nicht mit abgewogenen, aber
deutlichen Urteilen zurück.
Wechsel von Konjunktur und Politik
Die Zeit des Ersten Weltkrieges und bis zur Machtübernahme der Nazis in
Deutschland 1933 ist durch einen raschen Wechsel der Wirtschafts- und
Arbeitsmarktlage gekennzeichnet. War die Schweiz in der Mitte des
19. Jahrhunderts noch weitgehend ein Auswanderungsland, so setzte mit dem
wirtschaftlichen Aufschwung nach 1880 eine rasante Einwanderungswelle ein.
Es waren soziale und wirtschaftliche Gründe, die zur Immigration führten,
aber auch ethnische und politische wie Pogrome in Polen und Russland, die
zahlreiche osteuropäische Juden nach Westeuropa trieben. Die Zahl der
Ausländer erreichte vor dem Ersten Weltkrieg einen ersten Höhepunkt.
Gemäss Bundesverfassung von 1874 waren die Kantone und Gemeinden für die
Aufnahme von Einwanderern zuständig. Das führte im Ersten Weltkrieg zu
unhaltbaren Zuständen. In der Schweiz litt die Bevölkerung zunehmend unter
Lebensmittelknappheit und sozialer Not, was die Rufe nach verstärkter Abwehr
der Einwanderung mit ihren unerwünschten Nebenfolgen wie dem Schiebertum
verschärfte. Erst 1917, nach der sowjetischen Oktoberrevolution, erliess der
Bundesrat dann aber eine Notverordnung, die eine strenge Grenzkontrolle,
eine rigorose Behandlung der Deserteure und Refraktäre und die Schaffung
einer eidgenössischen Zentralstelle für Fremdenpolizei brachte.
Diese erste Abwehrphase führte zu einer Kompetenzverschiebung an den Bund -
der Bestand der Fremdenpolizei wuchs bis 1919 vorübergehend auf nicht
weniger als 500 Leute an. 1921 wurde dann eine neue Aufgabenteilung zwischen
Bund und Kantonen beschlossen, die vor allem die «Überfremdungsbekämpfung»
der Oberaufsicht des Bundes unterstellte. Unterdessen hatten Handel und
Tourismus längst eine Lockerung der strengen Einwanderungsvorschriften
verlangt. Mit dem Aufschwung von 1925 bis Mitte 1929 war man zusehends
bereit, die Grenzen wieder fast ganz zu öffnen und das Visum sogar als
Bedingung für den Stellenantritt in diesen Jahren des Arbeitskräftemangels
fallenzulassen.
Die Weltwirtschaftskrise nach dem «Schwarzen Freitag» im Oktober 1929 wirkte
sich in der Schweiz erst 1931 voll aus. Als die Arbeitslosenzahl die
Hunderttausendergrenze überschritt, setzte der Bundesrat einschränkende
Bestimmungen des beschlossenen Bundesgesetzes über den Aufenthalt und die
Niederlassung der Ausländer auf 1933 wieder in Kraft. Inzwischen aber hatte
sich die Einwanderungssituation grundlegend geändert, indem nicht nur - vor
allem deutsche - Arbeitslose in die Schweiz kommen wollten, sondern auch
deutsche Juden, die sich vor der nationalsozialistischen Verfolgung
fürchten mussten.
Skepsis gegenüber jüdischen Flüchtlingen
Die Ausländer- und Flüchtlingspolitik wurde in der Zwischenkriegszeit vor
allem von zwei Persönlichkeiten geprägt, von Bundesrat Heinrich Häberlin,
Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) 1920 bis 1934, und von
Heinrich Rothmund, von 1919 bis 1929 Chef der eidgenössischen Zentralstelle
für Fremdenpolizei und von da an Chef der Polizeiabteilung im EJPD, der die
Fremdenpolizei aufbaute und gegen alle Widerstände nicht zuletzt der
Kantone zu einem schlagkräftigen Instrument formte. Der «personifizierte
ÐMotorð der Überfremdungsabwehr» - wie ihn Gast charakterisiert - fand in
Prof. Ernst Delaquis, dem Vorgesetzten und Chef der Polizeiabteilung bis
1929, einen «versierten Förderer». Die politische Entwicklung vor allem in
den Nachbarländern stellte die Ausländer- und Flüchtlingspolitik der
schweizerischen Behörden vor neue, schwierige Probleme.
Im Nachgang zum Generalstreik 1918 und zu den politischen Turbulenzen in
Deutschland richtete sich die Abwehr nicht nur gegen eine Überschwemmung
des Arbeitsmarktes, sondern auch gegen «unerwünschte Elemente» vor allem
linksextremer Ausrichtung und gegen eine «kulturelle» und «rassische»
Überfremdung; darunter wurden vor allem Ostjuden verstanden, denen
vorgeworfen wurde, sie seien nicht assimilierbar. Die Skepsis gegenüber
jüdischen Flüchtlingen war offensichtlich in Teilen der Bundesverwaltung
verbreitet. Als allerdings der schweizerische Generalkonsul in München 1923
Hitler ein Visum für «acht Tage zu Studienzwecken» erteilte, wurde er von
Rothmund gerügt, weil dieser vorher nicht orientiert worden war, was ihm
erlaubt hätte, «Anordnungen» zu treffen.
Ein erster Schub jüdischer Flüchtlinge kam bereits 1923 nach dem
Hitler-Ludendorff-Putschversuch über die Grenze. Die Drangsalierung der
Juden durch SA-Banden führte dann auch in den Jahren vor der Machtergreifung
zu einem Flüchtlingsproblem - in einer Zeit wachsender Arbeitslosenzahlen.
Eine Verfolgung erlebte neben anderen Schweizern auch der ehemalige Chef
der Polizeiabteilung, Delaquis, der 1932 als angeblicher Jude von
nationalsozialistischen Studenten aus seinem Professorenamt an der
Universität Hamburg geekelt wurde.
Verhängnisvoll enge Definition
Die Unterhöhlung des Rechtsstaates in Deutschland und die deutliche Tendenz,
«Polen, Juden und Staatenlose» abzuschieben, stellten die Schweizer Behörden
von 1933 an vor neue gravierende Probleme. Politische Flüchtlinge waren
schon früher in grösserer Zahl aufgenommen worden, deutsche
Sozialdemokraten und russische Emigranten vor dem Ersten Weltkrieg,
antibolschewistische Flüchtlinge in den Nachkriegsjahren und
antifaschistische Italiener seit 1922; diesen war ein striktes Verbot
politischer Tätigkeit auferlegt worden, weil Aussenminister Motta die
Beziehungen zu Italien auf keinen Fall trüben wollte. Seine Politik für den
Kleinstaat zwischen dem faschistischen Süden und - später - dem
nationalsozialistischen Norden war es, durch eine «formal möglichst korrekte
Politik das eigene Mass an Handlungsfreiheit zu wahren», wie Gast schreibt.
Das Problem der Verfolgung aus Rassegründen war für die Schweizer Behörden
in den dreissiger Jahren neu. Rothmund sah in den fliehenden Juden vor allem
ein «Überfremdungsproblem», das er nach rassistisch-kulturellen und
arbeitsmarktpolitischen Kriterien beurteilte. Motta sah darin ein von
Italien aus den zwanziger Jahren bekanntes Phänomen; nach ihm war vor allem
den politischen Flüchtlingen Aufmerksamkeit und Hilfe zu schenken. Um die
Definition des politischen Flüchtlings gab es zwischen den Behörden ein
längeres Ringen. Rothmund wollte die Juden ausschliessen. Bundesrat Häberlin
suchte alle einzuschliessen, die «verfolgt sind oder aller
Wahrscheinlichkeit nach Verfolgung zu gewärtigen haben». Rothmund selbst
erwog zwar differenzierte Lösungen, aber schliesslich siegte, wie Gast
schreibt, «seine falsch verstandene ÐBeamtenpflichtð», die den
Staatsschutzgedanken über humanitäre Erwägungen stellte. Im Kreisschreiben
des Bundesrates vom 7. April 1933, an dessen Ausarbeitung auch Bundesrat
Häberlin beteiligt war, hiess es, «Israeliten» seien nur dann als
politische Flüchtlinge anzuerkennen, wenn sie aus politischen Gründen
geflohen seien, wobei der in Deutschland geltende Boykott nicht als
politischer Grund gelte. Damit war die restriktive Politik abgesteckt, die
1938 zum verhängnisvollen Vorschlag zur Kennzeichnung jüdischer Pässe und
während des Krieges zur vorübergehenden Schliessung der Grenzen für jüdische
Flüchtlinge führen konnte.
Falsche Hoffnungen
In den dreissiger Jahren legte allerdings Bundesrat Häberlin in Gesprächen
mit prominenten Vertretern eines sozialdemokratischen Hilfskomitees und des
Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes dar, dass bei der Prüfung des
Asylrechts jeder Einzelfall für sich betrachtet werden müsse. Er legte Wert
darauf, dass die Schweiz von den Flüchtlingen vor allem als Durchgangsland
benützt werde, was allerdings auf grösste Schwierigkeiten stiess. Man zählte
darauf, dass die Gefahr in Deutschland «vorübergehend» sei. Noch rechneten
auch die Sozialdemokraten und Gewerkschafter mit einer möglichen Rückkehr zu
«normalen» Verhältnissen in Deutschland und waren deshalb bereit, die
Massnahmen der Behörden mitzutragen. Dass es so etwas wie einen «Holocaust»
in einem zivilisierten Land Westeuropas je geben könnte, konnte sich in den
dreissiger Jahren trotz den Schriften und Reden Hitlers niemand vorstellen
- nicht einmal die Juden in Deutschland, die sonst in viel grösserer Zahl
geflohen wären.
Kurt Müller (Meilen)
Uriel Gast: Von der Kontrolle zur Abwehr. Die eidgenössische Fremdenpolizei
im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft 1915-1933. Veröffentlichungen
des Archivs für Zeitgeschichte. Chronos-Verlag, Zürich 1997. 440 S.,
Fr. 58.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE BÜCHER 21.07.1997 Nr. 166 23
«Das informative Werk schildert auf Grund zahlreicher ungedruckter und gedruckter Quellen detailliert die Anfänge einer eidgenössischen Ausländerpolitik und hält auch nicht mit abgewogenen, aber deutlichen Urteilen zurück.»
Neue Zürcher Zeitung
«Es ist eine spannende Lektüre, die eidgenössische Politik in jenem Feld spiegelt, in dem Freiheit allzuoft als Bedrohung empfunden wurde und wird.»
Der Bund